Zweiundzwanzigstes Buch.
Pius III ausgeführten Fresken in der Sieneser Domlibreria, Welche die Ge-
schichte Enea Silviois behandeln, absehend von jeder historischen Treue, die
l)orti'ätähiilichkeit selbst völlig vernachlässigend, eine grosse Geschichtsfabel
in zehn mächtigen Bildern. Dazu kommen noch mehrere Tafelbilder, z. B.
die thronende Jungfrau in der Pinakothek zu Perugia, die sogen. grosse
Ancona (Kragstein), 1496 für S. Maria dei Fossi bestellt, sein empiindungs-
vollstes Tafelgemälde; die glorreiche heilige Jungfrau in S. Gemignano (1504)
und anderes.
Die Ausläufer der umbrischen Schule bewegen sich zwischen Perugino
und RalTael, bald den einen bald den andern nachahmend oder ihnen direct
die Eigenthümlichkeiten ihrer Kunst entlehnend; so Gerino da Pistoja,
der Spagna (Giovanni di Pietro, gest. ca. 1530), Tiberio d'Assisi
(um 1512, 1518 thätig), Domenico di Paris Alfani (1483-1536),
Eusebio di San Giorgio (thätig um 1505 ff). Raffaels Vater Giovanni
Santi (gest. 1494), Dichter und Maler zugleich, war nicht so unbedeutend,
als man ihn vielfach glaubte; sicher scheint, dass er mehr als einer gethan,
um seinem Sohne das Beste an der umbrischen Kunst als Erbe zu hinter-
lassen 1.
XIII.
Kampf der alten und neuen Richtung zu Ende des Qnattroeenio. Letzte
Reaction der alten Tendenzen: Savonemrola. Verwalten nnd Sieg der
Renaissance.
Die Empfindung, aus der heraus die mittelalterliche Kunst gelebt, hatte
in den Fresken von S. Marco ihr letztes WVort gesprochen: die Wogen des
Realismus schlugen über ihr zusammen, die neue auf der Beobachtung der
Natur und der Verherrlichung der Schönheit dieses irdischen Leibes beruhende
Richtung drängte ungeduldig und siegreich vorwärts, die Erfassung des realen
Lebens Ward zum Gesetz wie der Politik so der Kunst; die zweite Hälfte des
Quattrocento zeigte sich begierig und reif, die Früchte der von Dante und
Giotto eingeleiteten neuen Wendung des menschlichen Geistes einzuheimsen.
Das Verlangen dieser Zeit war ein zu heftiges, es schoss in der Missachtung
des Ueberlieferten ebenso über das Ziel hinaus, wie es das Mass in der Be-
wunderung der Antike nicht immer einzuhalten Wusste. Die unermessliche Un-
ruhe, welche das Herz der Nation ergriffen, der Reichthum, welcher ihr fast
plötzlich zufloss, hat Abwege und Ueberhebungen bedingt, auf denen die gute
Sitte und die öffentliche Moral nur allzuviel Schaden litt. Der Luxus und die
ausschweifende Pracht an den Fürstenhöfen verdarb nur in zu Weiten Kreisen
die Einfachheit der alten Volkssitten. Die Missachtung der Moral Ward eine
allgemeine Erscheinung. An geschlechtlichen Ausartungen, an Grausamkeit
und Tücke, an frecher Hintansetzung aller Gesetze christlicher Ehrbarkeit
wetteiferten die Höfe der Este in Ferrara, der Sforza in Mailand, der Ba-
glioni in Perugia, der Malatesta in Rimini, der Gonzaga in Mantua, der Medici
in Florenz; Ferrante in Neapel, Lodovico il Moro gaben der Welt von neuem
Beispiele jener Art, wie sie nur Suetonius beschrieben: sie wären an Tücke
und Schamlosigkeit unübertroffen geblieben, hätten Rodrigo und Cesare Borgia
1 Vgl. MILANESI zu VASARI TV 391.
Cnowß und CAVALCASELLE Raffael, D. Ausg,
Lpz. 1883, I
Berlin 1887.
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Giov.
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