Volltext: Die Kunst des Mittelalters, der Renaissance und der Neuzeit: Renaissance und Neuzeit (Bd. 2, Abth. 2, Hälfte 1)

Begriff, 
Natur 
constitutive 
Elemente 
Renaissance. 
freundlichen Mönchthums, dem das Wort des Herrn gesagt schien: ßlomina- 
1Min! piscibus maris et volatilibzes coeli et bestiis, et bestiae terrae pacißcae crunt 
tibi' (Iob 5, 23). 
Wenn diese Vertrautheit mit der Thierwelt ein Characteristicum der 
germanischen Welt ist; wenn sie mächtig hineinspielt in die Kunstvor- 
stellungen und die Poesie unserer Vorfahren; wenn wir an den Capitellen 
und Portalsculpturen unserer romanischen Kirchen ablesen, wie stark diese 
Thierwelt die Phantasie der germanischen Künstler beschäftigte: so fehlen 
diese Erscheinungen doch auch nicht in Italien. Die eingesessene Bevöl- 
kerung hatte einen hinreichenden Zusatz germanischen Blutes in sich auf- 
genommen, um auch diesen Zug zu gewinnen. So erklärt sich der wach- 
sende Einfluss des ,Physiologus', der antiken Pilanzen- und Thierbücher. Im 
11. Jahrhundert schrieb Pier Damiani (gest. 1072) sein merkwürdiges 
Schriftchen ,De bono religiosi status et variorum animalium tropologis' 1, wo 
er die Moral an den Gepflogenheiten der Thiere erklärte. Hundert Jahre 
später (ca. 1182) wird der Heilige geboren, in welchem sich die irdische 
Erscheinung des Erlösers treuer als in irgend einer andern historischen 
Figur widerspiegelt und der durch die unermessliche Erregung des religiösen 
Geistes, die sich an seinen Namen knüpft, für die Geschichte der christlichen 
Kunst und selbst die Anfange des Rinascimento von so grosser Bedeutung 
werden sollte. 
Nie hat die Seele eines Christen enger und köstlicher mit der Natur 
zusammengelebt als diejenige Francesco's d'Assisi2. lhm waren die 
Thiere des Waldes und die Vögel des Himmels Brüder und Schwestern. Die 
Schwalben auf den Dächern, die Cicade, die auf seine Hand geflogen, singen 
auf sein Geheiss das Lob Gottes; ,die Caritas, die diesem wundersamen Manne 
einwohnte, umwob mit unzerreissbaren Netzen jegliche lebende Creatur, die 
ihrem Wirkungskreise nahte, und dem Liebeszauber, der von ihm ausging, 
konnte kein Naturinstinct widerstehen' (Görres). ,Aber dieselbe quellende 
und strömende Liebe, die Würmer aus dem Wege trug, damit der Fuss des 
Gehenden sie nicht zertrat, weil der Heiland einmal gesagt: „ich bin ein Wurm 
und kein Mensch", und der die Bienen im Winter mit Wein ernährte, damit 
sie in der Kälte nicht erstarrten, ergoss sich auch gegen die sogen. leblose 
Natur und suchte mit ihrem Feuer auch in ihr den schlafenden Herzschlag 
zu erwecken. Mit unendlichem Ergötzen, erzählt Thomas de Celano (c. 10, 81) 
von ihm, konnte er an der Schönheit der Blume sich erfreuen, weil er in 
ihr den Wiederschein dessen erblickte, der aus der Wurzel Jesse hervor- 
gegangen, und wo er ihrer viele beisammen fand, liess er auch mit ihnen 
sich in einfältig fromme Gespräche ein' (Görres). Man weiss, wie Fran- 
cesco die Waldeseinsamkeit seiner umbrischen und toscanischen Berge ge- 
liebt. Als er den letzten Blick auf sein geliebtes Alvernia wirft, bricht er 
in die Worte aus: ,Mons coagulatus, mous pingulis, mons ein guo beneplacitum 
est Deo habitaref. Der ganze Lebensinhalt des Heiligen klingt dann in dem 
Sonnengesang Cßlltissimo, omnipotenteQ aus oder den ,Laudes creaturarum", 
' PETB. DAMIANI Op. LII (nur im 4. Bde. 
der Ed. Paris. 1642. 1663 von CONST. CAIE- 
TANZ; MIGNE t. CXLIV  
2 Vgl. dazu J. Gölmns Der hl. Franc. v. 
Assisi ein Troubadour. Strassb. 1826 (aus 
dem ,Katholik').  FR. Ozmum Les Poätes 
franciscains en Italie au 13a siäcle (Oeuvres, 
Par. 1859, t. V).  HENRY Tnoma, Franz 
v. Assisi und die Anfänge der Kunst der 
Renaissance (Berl. 1885) S. 64 f.
	        
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