Einuudzwanzigstes
Buch.
italienischen Lyrik eingewirkt. Hier hatten freilich schon im 12. Jahrhundert
die herumschweifenden Goliarden, fahrendes Volk von Studenten, Dichtern
und Spielleuten, es gelernt, ihr Auge den Wundern del bei paese weit zu
öffnen und die sie überkommende sieghafte Lust in ihren Liedern auszuströmen.
Seit den grossen Tagen der griechischen Lyrik war so helles Entzücken nicht
mehr ausgebrochen, wie es die Beschreibung des Haines des Amor in den
,Carmina Burana" athmetl. Welch neues Leben die Frühlingslüfte in unsern
Körper hineinwehen Niemand hatte es bisher besser gesagt als der leicht-
fertige Poet, welcher das ,Tevnpus adest floriduvn" anstimmte 2.
Lyrische Von der lyrischen Stimmung solch fahrender Sänger war sicher Fran-
Poesle" cesco d'Assisi angeweht, nur dass die heitere Weltlust des Jünglings ins
Religiöse umschlug. Man kann über die Frage, inwieweit die unter seinem
Namen gehenden Gedichte ihm alle angehören, verschiedener Meinung sein:
das ganze Leben des Heiligen bleibt ein grosses lyrisches Gedicht. Eine
wunderbare Freude an der Natur, ein inniges Zusammenleben mit ihr athmet
aus seinen Liedern, aus den authentischen Zügen seiner Biographien, aus dem
köstlichen Kranz von Legenden, der sein historisches Bild umrankt hat und
den uns die ,Fioretti di s. Francesco" bewahrt haben.
[lebertrieben ist es immerhin, wenn Bartoli von dem früher-n Mittelalter
sagt, es sei mit seinem ascetischcn Ideal eine Wclt ohnc Freuden, ohne
Blumen, ohne Licht gewesen 3. Das mittelalterliche Einsiedler- und Mönch-
thum hat von Anfang den vertrauten Umgang mit der Natur und der
Freude an Thierwelt gekannt und geliebt 4. Von seiner tiefen und dauernden Em-
derwfäler" piindung für die Schönheit der Natur zeugen alle seine Niederlassungen. Die
hohen Berge mit ihren entzückenden Aussichten auf Land und Meer, welche
sich die Benedictiner und die Certosiner wählten; die stillen, beschlossenen
Waldthäler, in denen die Cistercienser ihre Psalmen sangen; die düsteren
Gebirgsschluchten, in denen die Carthäuser und Bernardiner über die letzten
Dinge des Menschen ihre Betrachtungen anstellten; die einsamen lUausen
unserer Waldbrüder und Eremiten Waren alle diese Behausungen, von
denen aus der Gedanke an Gott und sein Paradies seinen WVeg in die Her-
zen der Weltkinder draussen in den Dörfern und Städten nahm, Waren sie
nicht alle Zeugen einer tiefen Empfindung für landschaftliche Schönheit?
In seiner Einsamkeit fühlte sich der Mönch zu der Natur hingezogen, und
es zahlte ihn die Natur, nimmer undankbar, mit heimlicher Sympathie. Mit
den Thieren des WValdes lebten die fränkischen Einsiedler in trautem Ver-
kehr. Man kennt, sagt Montalembert, kein Beispiel, dass ein Religiöse von
ihnen zerrissen oder auch nur bedroht worden wäre; aber auch keines, dass
sich diese Waldbrüder, selbst vom Hunger getrieben, der Jagd auf das Wild
hingegeben hätten. Die Wohnung der Heiligen war für die armen ge-
hetzten Thiere Zuflucht und Schutz. Sanct Launomar, der die zu ihm flüch-
tende Hirschkuh vor den Wölfen schützt und in ihr das Sinnbild der von den
Dämonen verfolgten christlichen Seele erblickt, ist das Bild dieses thier-
Lyrische
Poesie.
' Carmina Burana. Herausg. von J. A.
SCHMELLER S. 162 (3. Aufl. Bresl. 1894),
Nr. 65; S. 163, Nr. 66.
2 Ebd. S. 183, Nr. 105. Vgl. auch die
Lieder Nr. 6 und 98-118 überhaupt.
3 BARTOLI I Precursori del Rinascilnento
p. 33: ,un mondo, dove ü, calpestata 1a natura,
dove non regna ehe il miracolo, dove il Santo non
mangia, non dorme, non si veste, npn si lavai
4 Vgl. CHARLES LOUANDRE L'Epop6e des
animaux (Rev. des Deux Mondes 1853, 15 däc.)
und das schöne ,Livre VIII: Les Moines et 1a
Nature' bei MONTALEMBERT Los Moines d'Oc-
cident VTE (Paris 1873) 369 S.