Volltext: Die Kunst des Mittelalters, der Renaissance und der Neuzeit: Renaissance und Neuzeit (Bd. 2, Abth. 2, Hälfte 1)

Buch 
Einundzwanzigstes 
Ausartung 
der huma- 
nistischen 
Bewegung. 
Aretino. 
Firenzuola. 
In diesem Stadium der Entwicklung spielt der Cult der unverhüllten 
Schönheit eine mächtige Rolle: er ist zu einem der Hauptanklagepunkte ge- 
worden, welche gegen die Renaissance erhoben werden. Dass er nicht erst 
ihre Erfindung ist, kann heute, nach den neueren Forschungen über Salimbene 
und nach den Untersuchungen Barzelottfs als ausgemacht gelten 1. Dass der 
Einüuss der Antike nach dieser Rücksicht ein hinreissender war, kann nicht 
geleugnet werden. Dass Schriftwerke wie Boccacciols ,Decamerone' und die 
ganze Novellenlitteratur schon des Trecento ein mächtiges Erwachen der 
Lüsternheit bezeugen, ist gewiss. Trotzdem ist zu sagen, dass, wenn die 
Freiheit in der Darstellung des menschlichen Körpers mit dem Auftreten des 
Realismus, dem Studium der Anatomie, dem Einfluss der Antike seit den 
dreissiger Jahren des 15. Jahrhunderts zugenommen hat, doch im ganzen 
und grossen das Quattrocento nicht über die erlaubten Grenzen hinausging. 
Das Verderbniss war, in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts, haupt- 
sächlich noch in den höheren Classen zu Hause; das Volk, aus welchem die 
Iüinstler fast alle hervorgingen, war durchweg Heissig und rein 2. Mit wenigen 
Ausnahmen haben seine Künstler das Nackte nicht um seiner selbst willen 
und mit ostensibler Freude am Lasciven dargestellt; waren sie doch beinahe 
alle noch gebunden durch das Gesetz der christlichen Sitte und nicht frei- 
gegeben von der Hüterin dieses Gesetzes, der kirchlichen Autorität. Erst 
mit dem Zeitalter Lorenzds und Alexanders VI ändert sich dies; aber wenn 
die Kirche später den Künstlern vorwerfen konnte, dass sie die Grenze des 
Erlaubten überschritten, konnten Diese erwiedern, dass ihnen und der Kirche 
die Hüter des Gesetzes gefehlt hatten. Die Grossmeister der Renaissance 
sind nicht ganz frei von Vorwürfen nach dieser Seite geblieben; oifen aber 
steuert die Kunst wie die Litteratur in den Sumpf des Verderbens, seitdem 
mit dem Hingang Raffaels und Lionardds der Genuss an die Stelle des Ge- 
dankens getreten war. Die litterarische Thätigkeit des verderbtesten aller 
Schriftsteller, Pietro Aretino's (1492-1556), ist die Signatur dieser neuen 
Phase. Die ,Sonetti lussuriosr, welche er zu den von Giulio entworfenen, von 
Marcantonio Raimondi gestochenen frechen Zeichnungen schrieb (1524), können 
als das Signal des Zusammenbruchs betrachtet werden: jetzt versinkt die gute 
alte Sitte vor der Schamlosigkeit, die echte Renaissance, wie sie, gehalten 
von der religiös-sittlichen Idee, im engen Zusammenhang mit der kirchlichen 
Tradition und ihren Kunstvorstellungen, ohne Unterlass schöpfend aus dem 
reichen Born ihrer Ikonographie, gehütet durch den Geist Dante's, sich in fast 
ununterbrochenem Siegeslauf bis auf Raffael und Michelangelo hin erhoben 
hatte  sie starb jetzt rasch und unaufhaltsam dahin. In diese Zeit fallen 
die ,Discorsi' des Agnolo Firenzuola, der, 1493 in Florenz geboren, in 
Perugia mit Aretino bekannt geworden, von Bembo dem Papst Clemens VII 
vorgestellt und von letzterm trotz der Ausgelassenheit seiner Novellen überaus 
gnädig behandelt wurde. Er trat bei den Vallombroser Mönchen ein, scheint 
l G. BARZELLOTTI Italia mistica e pagana. 
(Nuova Antologia, III ser. V. Fasc. 12A13.) 
 Vgl. WOTKE in Allg. Ztg. 1893, Nr. 3, 
S. 7. 
2 Vgl. über die Moralität der Künstler 
VILLARI Donatello p. 34 sg.  Ueber den 
Zusammenhang von Kunst und Moral, Religion 
und Schönheit mag man noch vergleichen die 
Auszüge aus RUSKIN in RSV- _d_es Deux 
M0ndos1895, 1d6c.; 1395, 13m"; 1897, 
1 fävlz, 1 2IVI'., 1 mai.  HR. STEINHAÜSEN 
Die Kunst u. die Christ]. Moral, Wlttenh 1896; 
dazu Jon. Fromm in Theol.  
Nr. 23.  Von der Momlität 1m. l.eltajtel' 
der Renaissance im allgemeinevn 1st spater 
zu sprechen.
	        
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