Einundzwanzigstes Buch.
poeten Lucrezia Borgia's, welche die Macht ihres Blickes besangen 1, sondern
lange vor ihnen schon hat Augustinus gewusst, dass des Menschen Auge sein
schönstes Kleinod sei 2.
Uebereinstimmend lehren die Väter, dass die irdische und körperliche
Schönheit nur dann und darum gefährlich sei, weil sie uns von der himmlischen
abzieht. Was Augustinus über den Vorzug der Liebe zum Schöpfer vor der
Liebe zum Geschöpfe geschrieben, zahlt zu den unsterblichen Blättern der
ganzen Geschichte der Litteratur3; aber schon lange vor ihm hatte Origenes
wundervolle Ausführungen über den amor spiritualis in seinem Gegensatze zu
dem amm- ca-rnalis gegeben 4.
Im Mittelalter ist mit dem Auftreten des Mönchthums und der stärkeren
Ausbildung des Ascetismus der Gedanke der Weltflucht immer mächtiger
hervorgetreten, und die Schönheit des menschlichen Körpers ward in den
mönchischen Kreisen bald nur als illecebrae, als Verführung und Gefahr an-
gesehen. An die Stelle der antiken Culturvölker traten wilde und unerzogene
Nationen, in denen die brutalen Instincte der Glieder noch lange ihre Herr-
schaft bewahrten; jene oft extreme ascetische Auffassung war die Reaction
dieser Erscheinung und galt offenbar Vielen als das einzige Gegengewicht,
welches jenen sinnlichen Gewalten in einer halb barbarischen Gesellschaft
entgegengestellt werden konnte. Demgemäss ward auch das Studium und die
Zergliederung des menschlichen Körpers als unzulässig betrachtet. Die älteste
medicinische Schule des Mittelalters, diejenige von Salerno, studirte den Bau
des menschlichen Organismus an jenem unreinen Thiere, dessen Structur man
der des Menschen am verwandtesten glaubte. Kein Wunder, dass die bildende
Kunst des Mittelalters nur zu oft und zu lange mit den Gesetzen der Anatomie
auf schlechtem Fusse lebte 5: sie unterwarf den menschlichen Körper einer
Stilisirung, deren Oonception und deren Linien sich den Formen der herrschenden
Architektur anschlossen und zugleich jenen conventionell-hierarchischen Cha-
rakter bewahrten, welcher diese Schöpfungen in den Augen des Beschauers so-
fort in eine höhere Sphäre hineinrückte. Ein metaphysischer Zug beherrscht die
ganze Sculptur und Wandmalerei des Mittelalters, bis die Pisaner und Giotto
ihr Auge für das Drama des irdischen Lebens öffnen und nun, unter dem
quippe mulieruln in genis dicitur esse quam
plurimeü etc.
' Vgl. die Distichen des ERCQLE STROZZA,
(zit. bei BURGKHARDT Cult. d. Ren. H 81;
auch Bmwo weiss von solchen Dingen zu
reden.
2 AUGUSTIN. De morib. Eccl. cath. I c. 20
(Opp. 1 885): ,in quibus (in illecebris cor-
poris) maxime lux ista vulgaris excellit, quia
et. in ipsis sensibus nostris, quibns anima
per corpus utitur, nihil est oculis prae-
ferendumi
3 So in den ,Confessiones' an vielen Stellen;
aber auch z. B. Enarratio in Ps. 148 (Opp. V1
1158): ,N0n ergo tibi placeat quod fecit, ut
recedas ab eo qui fecit: sed si amas quod
fecit, mnltn magis eum qui fecit. Si pulcllra.
sunt quae fecit, qnanto pulchrinr 0st qui
fecit? Confessio eius in terra et in coelu
(Rom. 1,
4 ORIGEN. 1. c. (bei HIERON. Opp. III 505).
5 Sicher sind indessen hie und da. Aus-
nahmen vorgekommen. Das älteste meines
Wissens bekannte Beispiel einer Arbeit nach
dem Leben berichtet THOMAS von Bunrou,
Abt von Meaux, bei BEVERLY in seiner zu
Ende des 14. Jahrhunderts verfassten Chro-
nik : ,dictus autem Hugo abbas XVM (1. Hälfte
des 14. Jahrhunderts) Cruciüxum novum in
choro conversorum fecit fabricari. Cuius
quidem operarius nullam eius formosam et
notabilem proprietatem sculpebat nisi in feria
sexta, in qua pane et aqua tantum ieiunavit.
Et hominem nudum coram se stantenn pro-
spexit, secundum cuius formosani imaginem
Crucifixum ipsum aptius decoraret" (Chrun.
mon. de Melsa, ed. by E. A. Bonn 1866 W68,
Rolls Series III 35, abgedr. bei JUSSERAND
English Wayfaring Life, transl. by L. T. SMITH
[LomL 1897 5] p. 345. 436).