Buch
Zweiundzwanzigstes
fangen und in Rosen baden. Bei allem Zauber dieser Composition ist ihr eine
gewisse Härte nicht abzusprechen. Zarter und poetischer noch empfunden ist
die Primavera (Akademie in Florenz), ein Bild, das in der neuesten Zeit Gegen-
stand sehr verschiedener Deutung geworden ist 1. In einem an die von Dante
und auch anderwarts von Botticelli (in den Fresken zu Boccaccio's Decamerone
in Lyon) gefeierte Pineta an Ravennas Strande erinnernden dichten Haine sieht
man die Göttin des Frühlings (vgl. Fig. '71) in der Mitte der Seene, Cupido über
ihr, drei junge Frauen in transparenten Kleidern vor ihr tanzend (die Grazien 19),
einen jungen Mann, der Früchte von den Baumen piiückt, hinter der Göttin
ein Cortege von Frauen, deren eine ihr Rosen auf den Weg streut. Auch
hier ist nicht Alles schön, aber über einzelnen Gestalten und über dem Ganzen
ruht ein wunderbarer träumerischer Zauber, der mich immer vermuthen lässt,
dass der Künstler, als er diese glivina forestcz spessa e vinaf schuf, schon
stark unter dem Einflüsse Dantes lebte. Denn alles in allem war und blieb
Botticelli ein Mann der frischen, nationalen Renaissance, die an Dante anknüpft.
Alle die Gottheiten, die er sonst noch gemalt, Galatheen, Bacchen, Amoren,
sind doch eigentlich für ihn nur ein Praetext, und Müntz hat nicht Unrecht,
sie pseudo-classische Productionen zu nennen. Auch die Allegorie der Ver-
leumdung in den Ufiizien, die Botticelli nach Lucian schuf, ist trotz ihrer
römischen Architektur ein echtes Gebild des italienischen Rinascimento.
Botticelli hat eine Anzahl Weibliche Idealbildnisse geschaffen (Pitti, Chantilly,
Frankfurt, Berlin), die meist als Porträts der in der iiorentinischen Geschichte
jener Tage berühmten und viel besungenen Simonetta Januensis Vespuccia2,
der Freundin Giuliands de, Medici, bezeichnet werden. Sie gehen zu weit aus-
einander, um als Wiedergabe derselben Person gelten zu können. Anderseits
fehlten dem ausgeprägten lyrischen und dazu im höchsten Grade subjectiv-
launischen Temperament des Künstlers die Voraussetzungen, um ihn im Porträt
Grosses erreichen zu lassen. Wo er sich ganz in seinem Elemente bewegt,
ist dagegen die Illustration Danteis. Vasari (III 317) hat zwei Angaben
betreffs der Beschäftigung des Künstlers mit diesem Dichter: einmal sagt er,
Botticelli habe das Inferno commentirt und in Druck gegeben; dann, er habe
ein wunderbares Werk geschaffen, indem er auf Pergamentblättern eine
Gesammtillustration der Commedia für Lorenzo di Pier Francesco de, Medici
unternahm. Erstere Notiz bezieht man auf die Zeichnungen zu den zwanzig
Stichen der Landino-Ausgabe (Florenz 1481): indessen können sich die rohen
Stiche höchstens im allgemeinen an eine Botticellfsche Vorlage anlehnen.
Das Hauptwerk ist uns, nach mancherlei Schicksalen, bewahrt geblieben 3.
Mit Signorelli und Michelangelo kann sich Botticelli auch hier hinsichtlich der
' WARBURG S. Botticellfs Geburt der Vg-
nus und Frühling (Strassb. Diss.1892. Vgl.
Kunstchronik 1893, N. F. IV 359; VI 14) und
ULMANN a. a. O. S. 84 sehen hier den Ein-
fiuss Polizians, speciell die Schilderung des
Reiches der Venus in der Giostrn. des Dich-
ters (geschr. 1476-1477; Ed. CARDUCCI,
Fir. 1863, p. 39), welcher Ansicht indessen
neuestens widersprochen wird: MARRAI ,Arte'
1898, II 500. Vgl. noch A. VENTURI La Pri-
mavera nelle arti rappresentative (Neue Ant.
1892, p. 39-50). EM. JACOBSEN im Arch.
stor. (IeIYarte 1897, Ser. II, N0. III 321. Ders.
Preuss. Jalirb. XCll (1895) 495. SUPnw
l. c. p. 69. Ich bin immer noch der
Meinung, man solle dem Bild die Bezeich-
nung der ,Primavera' lassen; mag sie auch
eine idealisirte Simonettu sein (Warburg) und
die Ziige einer antiken Flora tragen.
2 Das ist die Unterschrift der Bilder
in der ehemaligen Reiseifsclien Sammlung
zu Paris.
3 Aus der Sammlung Hamilton gelangte
1882 ein Album mit 88 Blitttcrn an (las Ber-
liner Kupferstichcabinet; 8 andere Blätter be-
sitzt der Vatican seit 1690.