Buch.
Zweiundzwanzigsfes
Jammer. Bewundert man in den Apostelgestalten die Würde ihrer Er-
scheinung, den trefflichen, alles Conventionelle abstreifenden Faltenwurf der
Gewänder, so fühlt man aus der Krankenheilung und Almosenspendung das
innere Gefühl, das pathetische Element heraus, wie anderseits das Masolino
weit übersteigende Vermögen der einheitlichen Gruppenbildung sofort in die
Augen fallt. Zum erstenmal in der Malerei, kann man mit Vasari sagen,
ist hier ,ein neuer Stil, eine moderne Kunst', in der man neben der Gross-
artigkeit der Composition zugleich die coloristische Leistung als höchsten Lobes
werth zu beachten hat. ,So begegnet uns hier, bereits an der Schwelle des
15. Jahrhunderts, die glückliche Vereinigung von Colorit, Formausprägung
und Sinn für perspectivische Wirkungen, welche dem Maler dieses goldenen
Zeitalters italienischer Kunst die Bewunderung der Welt eintrugf Stimmt
man diesen Worten Crowe's und Cavalcaselleis bei, so muss man ihnen dagegen
auch in dem Recht geben, was sie über die Mängel dieses Meisters sagen.
Die Eigenschaften, welche in ihm das moderne Element darstellen, sind weit
mehr persönlicher Besitz dieses seltenen Mannes, als durch den Gesammt-
zustand der damaligen Kunstentwicklung bedingt. Es fehlt ihm der Sinn für
ileissige und richtige Durchführung der Form an Händen und Füssen, und
ebenso fehlt ihm noch eine vollkommene Erkenntniss der perspectivischen
Gesetze, die erst Paolo Uccello, Mantegna und Piero della Francesca gelang
und welche dann durch Ghirlandajo an Fra Bartolommeo und Raffael über-
liefert wurde.
Wendung Die definitive Wendung zum Realismus konnte nicht vollzogen
Rcäägfmls werden, ohne dass vor allem die Gesetze der Perspective und diejenigen
und Natura- der menschlichen Anatomie erkannt und studirt wurden. Brunelleschi und
Stäläifäshe, Ghiberti waren auf diesem Gebiete schon Führer für fast alle Zweige der bildenden
Anatomie Künste: für die Malerei aber hat Paolo Uccello (1397-1475) hier das
Päggegäßameiste durch das Studium des Details im Bau und Leben der Menschen und
UCWUO- Thiere gethan; Keiner hatte die Geheimnisse der Perspective in dem Masse
wie er vorher erforscht und gekannt. Von einer tiefern religiösen und idealen
Erfassung kann bei ihm nicht Rede sein (Fresken im Klosterhof von S. Maria
Novella): er ist, wie sein Handwerk es mit sich brachte, ein trivialer Natura-
list, und im Grunde sind auch Andrea del Castagno (1396?-l457),
Domenico Veneziano (gest. 1461, angeblich von Jenem aus Eifersucht er-
mordetl: Madonna in den Uffizien), Alesso Baldovinetti (1427-1499),
welche das perspectivische Studium des Uccello fortsetzten, nur sehr nüchterne
Realisten ohne irgend welchen höhern Aufschwung. Von grösster Bedeutung
war für die gesammte Entwicklung das anatomische Studium, wie es Andrea's
Die Polla- Schüler Pietro Pollajuolo (1443- ca. 1490) und sein viel bedeutenderer
mm Bruder Antonio Pollajuolo (1429-1498) betrieben. Des Letztern Stärke
lag auf dem Gebiete der Goldschmiedekunst und Sculptur. Pietro (Himmlische
Heerscharen im Chor der Pieve zu S. Gimignano 1483; Heiligenbilder und
thronende Tugenden in den Ufiizien) gab seinen Gemälden durch Einführung
von Firnissfarben über die Tenipera-Untermalung grössere Naturwahrheit;
' Die von VASARI berichtete Ermordung
des Domenico durch seinen Schüler Andrea
in S. Maria Nuova ist durch MILANESI (Giorn.
art. VI [1862] 6) als Fabel erwiesen werden.
Andrea malte erst sechs Jahre nach Dome-
nieo in S. Maria. Nuova (1450) und starb
vier Jahre vor demselben. Vgl. auch CA-
VALOASELLE III 40. Castagnds bestes Bild
ist vielleicht die durch unser kunsthistorisclios
Institut in Florenz 1899 in der Annunziutn
zu Florenz aufgedeckte Kreuzigung, deren
Publication leider noch nicht möglich war.