Volltext: Die Kunst des Mittelalters, der Renaissance und der Neuzeit: Renaissance und Neuzeit (Bd. 2, Abth. 2, Hälfte 1)

italienische 
Früh renaissance. 
der letzten Dinge herausspricht, steht die lebensfrohe, oberflächliche, rein 
weltliche Behandlung der alttestamentlichen Sujets gegenüber, welche uns 
Benozzo darbietet. Ein Zeitraum von mehr als hundert Jahren trennt diese 
innerlich so (lisparaten Schöpfungen: an dem Unterschied, der diese Bilder 
charakterisirt, kann man den weiten Abstand abmessen, welcher das 
Zeitalter des Schwarzen Todes von demjenigen trennte, in welchem Lorenzo 
il Magnifico die schöne Simonetta besang. Die ganze Evolution der Renais- 
sance zwischen 1350 und 1480 ist darin einbeschlossen, und so stellt der 
Camposanto mit seinen Wandmalereien einen Abriss der Culturgeschichte 
Italiens für jene Zeit dar. 
Es erschöpft sich damit nicht das Interesse, welches fortdauernd dieser Der Campo- 
Stätte zugewandt wird. Der wunderbare Zauber, welcher über diese Hallen  
und den von ihnen umschlossenen Friedhof ausgegossen ist, wird freilich zu- 
nächst seiner Architektur und dann den diese schmückenden Wandmalereien 
verdankt. Er wird aber wesentlich erhöht durch den antiquarischen und 
historischen Werth der in diesen Corridoren angesammelten Sculpturwerke, 
die ein förmliches, köstliches Museum darstellen. Da ist die griechische Kunst 
durch den attischen Grabstein des 3. Jahrhunderts v. Chr. mit der sitzenden 
Matrone vertreten; etruskische Cisten reden von den frühesten Anfängen ein- 
heimischer Sculptur; römische Porträtbüsten, Statuetten, Reliefs in Menge lassen 
die Einflüsse erkennen, welche die Schöpfungen Niccolo Pisano's an seinen 
Kanzeln abspiegeln; kostbare Sarkophage der Kaiserzeit erzählen uns von den 
Mysterien des Bacchusdienstes, von dem Tode als dem durch die Gottheit be- 
seligten Schlaf nach den Mühsalen dieses Lebens; sie sprechen die Ahnungen 
eines künftigen Wiedersehens in der Fabel von Amor und Psyche aus oder 
stellen den ernsten Gestalten von Hypnos und Thanatos das muntere Spiel der 
Amoren entgegen, um dann wieder im Raub der Proserpina auf den Glauben 
an ein jenseitiges Leben einzukehren, den dann ein Dutzend beachtenswerthei" 
altchristlicher Sarkophage in fester und beredter Sprache ausspricht. Das 
Mittelalter hat uns, abgesehen von den Madonnastatuetten der Pisaner Schule, 
zwei Sarkophage von weltgeschichtlicher Bedeutung hier zurückgelassen: den- 
jenigen der grossen Frau, aus deren Schooss eine noch grössere aufstand, 
deren Namen Dante in seiner Matelda, im irdischen Paradiese, gefeiert hat. 
Es ist der antike Sarg mit der Fabel von Hippolytus und Phaedra, dessen wir 
schon oben (S. 90) gedacht, in welchem die Zeit Gregors VII die Gebeine der 
Gräfin Beatrix von Canossa beigesetzt hat: seine Phaedra ist unter den Hände-n 
Niccolifs zur Maria geworden  ,z'n unriltrlo divina da la gloria dii Fedra esce 
ZVIaria' 1. Beatricens Tochter, die Freundin Gregors und Gemahlin Welfs, war 
Zeugin und Miturheberin der ungeheuren Kämpfe, die mit den Tagen Heinrichs IV 
anheben und mit dem Untergange Dessen endigen, dem das grösste und be- 
deutsamste der hier aufgestellten Mausoleen gilt. Welche Welt von Erinne- 
rungen und Vorstellungen weckt das Grabdenkmal Heinrichs VII, des letzten 
deutschen Königs, der auf welscher Erde für die Idee des Kaiserthums stritt 
und dessen tragischer Ausgang die irdischen Hoffnungen Dante's zerstörte, 
um in der Tiefe dieser grössten Seele des Mittelalters das grösste Dichtwerk 
der Christenheit zu zeitigen! Wie wenig ist dagegen, was die Neuzeit diesem 
Friedhof zu leihen wusste! Man kann Bartolinfs Inconsolabile nennen: das 
Symbol dieser Stadt selbst, die, einstmals Beherrscherin der Meere, jetzt zu 
GIOSUE 
CARDUCCI Rime 
Ritmi 
(Bologna 
1899)
	        
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