Buch.
Einundzwanzigstes
Aber nicht bloss die ,Vita Nuova", sondern die ganze ,Divina Commedia'
ist ein Bekenntniss Dante's. So hat Döllinger schon das Gedicht aufgefasstl,
und im selben Sinne konnte auf spontane Manifestationen desselben hin-
gewiesen werden, welche die Form des Altruismus annehmen, d. h. auf Aus-
führungen, bei denen der Dichter unter den Zügen Anderer sein eigenes Por-
trät liefert, bezw. sein Urteil über sich selbst abgibt 2.
Schon vor Dante hatte sein Lehrer und Freund Brunetto Latini in Seinen
,Versi sciolti' wahre und erlebte Leidenschaft geschildert und hatte Guido
Guinicelli in Bologna jenen dolce stile nuouo begründet, der, durch Guido
Cavalcanti nach Florenz übergeführt, durch Dante übernommen und aus-
gebildet, durch die Ehrlichkeit und den Ernst der Empfindung, die Kraft und
Unmittelbarkeit des Ausdrucks Vorläufer und Pendant jener Richtung der
bildenden Kunst wurde, welche Niccolo Pisano in der Sculptur, Giotto in der
Malerei vertreten sollte. Jetzt wurde das Sonett, anfangs in der Zahl der
Verse und in der Reimstellung noch schwankend, durch Petrarca schliesslich
bleibend in seiner Form festgestellt, das Hauptmittel zur Schilderung seelischer
Zustande, wie Burckhardt es nennt, ,der allgemein giltige Condensator der
Gedanken und Empfindungen, wie ihn die Poesie keines andern modernen
Volkes besitzti Dante's Liederbuch weist den häufigen und meisterhaften
Gebrauch dieser Dichtform auf, welcher die Terza Rima seiner Commedia
in der Wirkung am nächsten kommt. Die toscanische Kunst des Trecento
ist nur denkbar bei einem Volke, welches durch diese Schule hindurch-
gegangen war. Ihr Grossmeister war, nach der formalen Seite, Petrarca.
Aber auch dessen Freund und Rivale Boccaccio weiss in dem Sonett den
Empfindungen der Liebe und der Schwermuth wundervollen Ausdruck zu Ver-
leihen. Dass seine ,Fiametta' ein weibliches Seitenstück zur ,Vita Nuova"
Dantels und von dieser angeregt ist, hat schon Burckhardt ausgesprochen.
Jedenfalls haben wir auch in dieser Dichtung ein umfassendes, auf tiefer
Beobachtung beruhendes Sitten- und Seelengemalde, welches uns die weitere
Entwicklung der Seelenschilderung in den beiden auf Dante folgenden Genera-
tionen zeigt. Man sieht hier denselben Fortschritt in der Malerei des seelischen
Ausdrucks, wie ihn die Andachtsbilder der sienesischen Schule gegenüber dem
trockenen Gesichtsausdruck Giotto's aufweisen 3.
Die Erkenntniss der menschlichen Persönlichkeit und die Offenbarung
des eigenen Ich war eine nothwendige Vorstufe zur Ausbildung der Bio-
graphik und Selbstbiographik, in der das Italien des 14. und 15. Jahr-
hunderts den meisten übrigen Nationen ebenfalls voranging, und deren kunst-
massige Pflege wiederum als Vorbedingung des erzählenden Elementes in der
bildenden Kunst erscheint. Das christliche Alterthum, welchem die classische
Litteratur unsterbliche und leuchtende Vorbilder der Biographik geliehen,
hatte sich mit Erfolg auch nach dieser Richtung der Litteratur versucht.
Aber die Papst-, Bischofs- und Heiligengeschichten des Mittelalters wissen
,je me composai une femme de toutes les
femmes que j'avais vues". Ibid. p. 307: ,ma
Heure d'amour, mon fautöme sans nom des
bois de PArmorique, est devenue Atala sous
les ombrages de 1a Floridef
1 DÖLLINGER in Allg. Ztg. 1888, Nr. 335,
Beil.
2 KRAUS Dante S. 153.
3 Für die Auffassung und Analyse des
Menschen im 15. und 16. Jahrhundert ist
jetzt noch auf WILH. DILTHEY in L. STEINS
Archiv f. Gesch. d. Philosophie IV (1891)
604, für die ältere Litteratur der Selbst-
bekenntnisse auf v. Bßzoma in STEINHAUSENS
Zeitschr. f. Kulturgesch. I 161-163 zu ver-
weisen.