Einundzwanzigstes
Buch.
nicht das, was man die Entdeckung der Natur, sondern das, was man die
Entdeckung des Menschen genannt hat, das ist der subjectivistische und in-
dividualistische Zug, der mit Dante und Giotto durchbricht. Und hier ist der
Punkt, wo die nordische Kunst hinter derjenigen Italiens zurückbleibt, gewiss
nicht für die Zeiten Dürers, wol aber für das Trecento und Quattrocento.
Dass die Renaissance erst den ganzen und vollen Gehalt des Menschen
entdeckt hat, kann heute nicht zweifelhaft sein. Es ist namentlich von Michelet
und Burckhardt meisterhaft herausgestellt worden, wie in ihr die Erkenntniss
der Persönlichkeit eigentlich erst angehoben, durch das Studium der antiken
Litteratur vollendet wurde; wie an Stelle des Meeres von Conventionellem
und Künstlichem allmählich seit dem 18. Jahrhundert in Litteratur und Kunst
die Volksseele durchsichtig, das geistige Wesen des Menschen erkannt wurde.
Dass dieser Process durch Beobachtung und Schilderung der Seele und ihres
Lebens eingeleitet wurde, ist gewiss mit Recht von Burckhardt betont worden.
Aber er und Andere irren, wenn sie die Sache so darstellen, als 0b nach
dieser Richtung die durch Dante's ,Vita Nuova' eingeleitete Litteratur keinerlei
Vorbild oder Vorgänger gehabt habe.
Man würde dem Alterthum unrecht thun, wollte man verkennen, dass
auch seine Weisen bereits angefangen hatten, über seelische Zustände zu
reiiectiren und die eigene innere Erfahrung Andern kundzuthun. Dass
Platos ,Apologie des Sokrates eine Art von Bekenntnissschrift darstellt, ist
jüngst auch erkannt worden 1.
Viel ausgesprochener sind des Epiktets Gedanken und Marc Aurels ,Selbst-
gesprächeQ in denen die reifsten Beobachtungen und Maximen der stoischen
Schule niedergelegt sind.
Gleichwol ist es erst das Christenthum gewesen, welches dem mensch-
lichen Geiste jene Stellung zur Natur und Leiblichkeit, zu Geschichte und
Leben gab, die eine eigentliche Objectivirung möglich machte und uns damit
den Schlüssel zum Verständnisse der seelischen Zustände und Vorgänge reichte.
Die Selbstbekenntnisse beginnen in der christlichen Litteratur, wenn man
will, mit den paulinischen Briefen. Ihr erstes eigentliches Denkmal ist
Cyprians Buch an Donatus. Ihm folgen Gregors von Nazianz JIonjpara 735,02
äaunßöf, des Dracontius ,Satisfactio', der ,Eucharisticos' des Paulinus Pellaeus.
Augustins ,Confessiones' werden immer das Hauptwerk des christlichen Alter-
thums, ja der gesammten christlichen Litteratur nach dieser Seite bleiben.
So offen und ehrlich hatte vorher nie Jemand über die Irrsale seines eigenen
Lebens, über seine Niederlagen und Kämpfe gesprochen; auch nach ihm hat
nie ein anderer Schriftsteller mit gleicher Ehrlichkeit und Demuth, mit tieferm
psychologischem Verständniss das Werk der Gnade und das Werk der Natur
in den tiefsten Falten der eigenen Seele zu unterscheiden und zu schildern
gewusst. Nie hat vorher und nachher Jemand in so bewusster und so er-
greifender Weise von dem homo circumferens mortalitatevn zu erzählen und
nicht bloss etliche Leser, sondern ,das Menschengeschlechü zum Zeugen dessen
zu machen gewusst, was er als Sünder gewesen und was Jmc td-le animal"
(I 10) unter der Führung Gottes geworden. Es ist mit Recht hervorgehoben
worden, dass die Beobachtung die Stärke Augustins war 2, und Harnack hat
nicht ganz unrecht, wenn er diese litterarische That der augustinischen ,Be-
' Vgl.
Beilage.
Allgem.
Zeitung
1889 ,
341,
2 Au.
(Giesscn
HARNAGK Augustins
1895) S. 10. 17.
nfessi x
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