Volltext: Die Kunst des Mittelalters, der Renaissance und der Neuzeit: Renaissance und Neuzeit (Bd. 2, Abth. 2, Hälfte 1)

Soll die Renaissance als Schöpfung des italienischen Volkes laegriffen Das 
werden, so muss ein Blick auf seine Eigenart, auf die Herausbildung seines 
Charakters, auf die gesellschaftlichen und politischen Zustande der Zeit, um Volkes. 
die es sich hier handelt, geworfen werden 1.  
Die Eigenart des süditalienischen Naturells, in seiner gründlichen Ver- 
schiedenheit von demjenigen der Norditaliener, kommt hier kaum in Betracht, 
da der Süden nur einen untergeordneten Antheil an der Entwicklung der 
Renaissance genommen hat. Aber auch trotz dieser Verschiedenheit des 
Sicilianers und Neapolitaners von der nördlich des Liris wohnenden Be- 
völkerung kann von einem einheitlichen Nationalcharakter der Italiener ge- 
sprochen werden. Lassen sich in demselben bis zum 14. Jahrhundert noch 
Züge entdecken, welche auf den starken Zusatz germanischen Blutes in den 
ehedem von Griechen und Langobarden beherrschten Gebieten zurückzuführen 
sind, so schlägt von da ab, seit Dante die geistige Einheit der Nation ge- 
gründet, doch mehr und mehr das lateinische Element durch, wie es sich 
unter dem Einflüsse klimatischer Verhältnisse und der nie ganz verjährten 
Herrschaft ererbter Traditionen ausgebildet hatte. Dass der Mensch sich 
unter dem südlichen Himmel bedürfnissloser und freier fühlte, dass sein Dasein 
müheloser und mehr dem Genusse als der harten Arbeit hingegeben ist als das 
des Deutschen und Angelsachsen, war die Quelle einer politischen Schwäche, 
welche Italien selten erlaubte, über die Grenzen seiner Marken hinaus in die 
Geschicke Europas einzugreifen, und welche, nach rasch verblühter Jugend, 
seine Ohnmacht gegenüber den Grossstaaten des übrigen Continents bedingte; 
nach der künstlerischen Seite waren diese Lebensbedingungen ein unermess- 
licher Vortheil, der nicht bloss dem Individuum zu gute kam, indem es dem- 
selben eine im Norden fast unbekannte Genussfahigkeit und Empfänglichkeit 
für das Schöne sicherte, sondern auch der Gesammtheit eine Grazie und einen 
Schönheitssinn schuf, wie kein anderes Volk sie besitzt und wie sie noth- 
wendig war, sollte die schönste Blume des menschlichen Geistes sich aus 
den Tiefen einer Volksseele abheben. 
Französische Schriftsteller haben jüngst Frankreich als die eigentliche 
Heimat der Renaissance erklärt. Wir werden sehen, dass diese Annahme auf 
einer irrthümlichen Auffassung ihres Wesens beruht. Frei und ehrlich urteilt 
darüber Emile Gebhart, indem er die Gründe aufsucht, weshalb die neue 
Bewegung nicht in Frankreich, sondern in Italien zuerst eintrat. Freilich war 
Südfrankreich mit seiner provencalischen Litteratur Italien in der litterarischen 
Entwicklung Vorausgegangen. Aber es kam hier nicht zu einer Fortsetzung 
dieser Entfaltung und zu einer analogen künstlerischen Bewegung. Die pro- 
vencalische Litteratur war ebenso durch die Ketzerkriege und die Inquisition 
wie anderseits durch die manichäischenTendenzen des katharisch-albigensischen 
Geistes geknickt und zerstört worden Weder das Licht der antiken Bildung 
noch die Führung einer geläuterten Wissenschaft kamen der Provence und 
dem Languedoc zu Hülfe: eine grosse Kunst konnte hier nicht entstehen; aber 
auch nicht nördlich der Loire, obgleich hier die Bedingungen überaus viel 
' Üeber den Volkscharakter d. Italiener vgl. 
die noch jetzt lesenswerthen Seiten bei H. Lmo 
Gesch. v. ItalienI (Hamb. 1829) 28 ff. Seither 
hat, abgesehen von Burckhardt und E. Müntz 
a. a. 0., besonders GEBHART (Les origines de 
1a Ren. p. 51 ss.) den Gegenstand behandelt.
	        
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