Zwciundzwanzigstes
Buch.
Man hat die sienesische Kunst eine Idylle inmitten der Entwicklung
Italiens genannt. Sie hat in der That etwas durchaus in sich Beschlossenes.
gewiss spiegelt sie den ernsten, stillen Charakter jenes unteretruskischen
Hügellandes ab, aus dem sich, weithin sichtbar, Siena erhebt. Aber die Schule
der Sienesen hat doch durch ihre Einwirkung auf die der Umbrier und
Florentiner einen nicht zu unterschätzenden Einfluss auf die Gesammtentwicklung
der italienischen Kunst gehabt. In hohem Grade verdient sie darum unsere
Aufmerksamkeit, ganz abgesehen davon, dass die Betrachtung ihres Auf- und
Niedersteigens schon deshalb lohnend ist, weil deutlicher als anderswo die
Ursachen desselben offen liegen, lehrhaftex- als irgendwo uns entgegentritt,
welchen Bedingungen das künstlerische Vermögen unterworfen ist, welchen
Quellen es seine Erhaltung, Welchen es seinen Untergang verdankt.
Auf etruskischem Boden gewachsen, ist Siena doch eine rein mittelalter-
liche Stadt. Sie hat die Wölfin im Wappen und führt ihren Ursprung auf
Remus zurück; aber so anspruchsvoll diese Sage ist, an antiken Denknntkirn
ist Siena arm, und selbst die Renaissance hat an ihrer Architektur nur einen
beschrankten Antheil. Um so reicher tritt uns das Mittelalter entgegen: vor
allem in den drei grossen Denkmiileifii, welche für die Stadt charakteristisch
sind: dem Palazzo pubblico, dem Dom. und der Casa di S. (Iaterina. Fügt
man ihnen S. Domenico, die grosse Klosterkirche der Dominicaner, und das
dem Dom gegenüberliegende Spital hinzu, so sind die l-lauptstätten genannt,
an denen sich die Kunst der sienesischen Architekten und Maler erwiesen hat.
Die Anfange dieser Kunst gehen bis ins 13. Jahrhundert hinauf, wo
der ghibellinisch gesinnte Freistaat in seine Blütezeit eintrat, mit dem Siege
über die Florentiner bei Montaperti (1260) seinen Höhepunkt erreichte und
bürgerliche wie religiöse Bauten, den grossen politischen Aussichten des
Gemeinwesens nach Stil und Ausführung entsprechend, in Menge sich erhoben.
Schon damals sehen wir sienesische Meister auswärts beschäftigt: den Francis-
caner Fra Jacopo Turriti lässt Nikolaus IV nach Rom kommen; Lorenzo
di Maetano geht mit einem ganzen Gefolge nach Orvieto, um dort den Dom-
bau zu übernehmen. Innerhalb der Stadt aber bildete sich bald eine Schule
von Malern, welche eine Zeitlang allen andern Schulen an Tiefe der Inspiration,
an Innigkeit der Conception voran geht und die Brücke ebenso zu der Kunst
der Umbrier wie zu der mystischen Malerei Fra Angelicois bildet.
Die Sieneser Localforscher stellen an die Spitze ihrer heimischen Kunst-
entwicklung eine Künstlerfamilie, deren Haupt Guido ist und zu der dessen
Bruder Mine und sein Neffe Ugolino zählen. Auf das Datum 1221
sich stützend, hat man, wie wir oben sahen, Guidds schöne Madonna in
S. Domenico als Sonne ohne vorausgehendes Morgenroth ans Firmament der
italienischen Kunst gezaubert und für Siena die Priorität vor Florenz in An-
spruch genommen. Aber jenes Datum des Bildes ist doch nicht hinreichend
gesichert, und Guidds Lebenszeit ist vielleicht doch ein halbes Jahrhundert
später anzusetzenl. Immerhin mag er als Ausgangspunkt einer Schule be-
trachtet werden, welcher er die Verbindung von Majestät und Anmuth als
Erbe hinterliess. Minois Antheil an ihrer YVeiterbildung ist nicht zu be-
stimmen; die von ihm im Oeifentlichen Palast seiner Vaterstadt geschaffenen
Bilder wie auch sein colossaler Christophorus sind untergegangen. Unzweifel-
haft bedeutender war Ugolino, der zu seiner Zeit ein angesehener Künstler
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