Einundzwanzigstes
Buch.
Diese neoclassische Kunst wanderte dann über die Alpen, wo sie allerdings
nicht eine weitere Entwicklung des Rinascimento, sondern die Unterwerfung
der nationalen Stile unter ein fremdes Princip bedeutete. Die Nichtunter-
Scheidung der über die Alpen importirten, uns gewissermassen durch äussere
Verhältnisse aufoctroyirten Renaissance und des italienischen Rinascimento, wie
es sich seit dem Ende des Trecento, im Quattrocento und im wesentlichen
bis 1520 als specitische Volkskunst Italiens darstellt, ist die Hauptquelle des
Missverständnisses gewesen, welches die wahre Natur der Renaissance ver-
kennen, ihr Verhältniss zum Uhristenthum in einem ganz falschen Lichte
erscheinen und ihre historische Berechtigung wie ihre Bedeutung für die ganze
Entwicklung der Menschheit unterschätzen liess.
Zu Ausgang des 15. Jahrhunderts hat einer der führenden Geister des
Humanismus, den Pico della Mirandola die ,lebende Bibliothek genannt hat,
Ziel und Wesen der Bewegung dahin definirt: sie gehe aus auf Aneignung
wahrer Cultur des Geistes. Zum erstenmal wird in solchem Sinne
das Wort Cultur von Filippo Beroaldo (1453-1505) gebrauchtl. ,C'ultur
des Geistesß sagt er, ,ist die Abkehr von allem Gemeinen, die Hinneigung zu
jedem Guten und die Erwählung des Besten und Edelsten. Diese Geistes-
cultur schliesst die Piiege aller edlen Künste und Wissenschaften in sich, sie
ist sozusagen identisch mit der Eloquenz, d. i. der höchsten Ausbildung politischer
Tugend, durch die der Staat geleitet wird." Mit diesen Worten meint Beroaldo
offenbar nichts anderes als die Herausbildung der Individualität nach allen
Seiten ihrer Leistungsfähigkeit und die Herausbildung des Staates zum Kunst-
werk; beides sind essentielle Elemente der Renaissance.
Plato hat im ,Symposion' den Zusammenhang der Betrachtung und Liebe
zum Schönen mit dem Idealen und Guten aufgewiesen 2. Diesen Zusammen-
hang in der schönen Form, im Kunstwerk zu versinnlichen, war das Ziel des
hellenischen Geistes; obgleich jeder andern Nation an ästhetischem Gefühl
und an Gestaltungsvermögen überlegen, gelang ihm die volle Verwirklichung
dieses Programmes nicht, weil der antike Mensch das sittliche Ideal ohne
das Licht des Christenthums in sich nicht zur vollen Reinheit und Höhe
entwickeln, erfassen und bewahren konnte. Die christliche Kunst nahm
den abgebrochenen Faden langsam wieder auf; die Renaissance bezeichnet
den mächtigsten Versuch, den ihr nach dieser Richtung zu unternehmen ge-
stattet war: was Plato's Ahnung vorweggenommen, ward das Programm der
echten und edlen Renaissance von Giotto herab bis zu Raffaels Tode. Es
war in Wirklichkeit eine Vita. Nuova der Menschheit.
waren doch die dominirende Note und ge-
wissermassen die raison uPätre der Renais-
sance, welchen Ausdruck man darum nicht
auf den Naturalismus der Niederländer aus-
dehnen sollte, denen die von dem classischen
Alterthum untrennbaren geistigen Tendenzen
fehlten. Das Studium der Natur und des
Alterthlnns haben zusammen in den grossen
Schulen des 15. und 16. Jahrhunderts die
Allianz der Schönheit und des Lebens be-
wirkt. Bacon nannte die Kunst „hom0 ad-
ditus naturae" könnte man nicht die Re-
naissance das Alterthum der Natur hinzu-
gefügt nennen Aber wnrin uuterschiede
sich dann die Renaissance von dem Alter-
thum selbst, dem doch das Studium der Natur
nicht gefehlt hat?
l BEROALDI Orationcs et Carmina. Impr.
Bononiae 1502, 4o-fol. DII: ßultura vero
animi est peioribus repudiatis: meliora sec-
tari, et id quod optirnum est potissimum ca-
pescere. Cultura zmimi est ingenuas disci-
plinas amplexari. Cultura autem est ipsn
eloquentia, quae una est de summis virtuti-
bus, quae sacra ac venerabilis, quae rermn
publicarum gubernatrix praeclara esse fertur,
quam M. Tullius primam arten] appellatf
2 PLATON. Sympos.