Buch.
Zweiundzwanzigstes
sirenden Richtung des Vaters folgt, gibt er sich, selbständig geworden, ganz
der neuen, auf grössere Lebenswahrheit und dramatische Leidenschaftlichkeit
gehenden Bewegung hin. Die Gothik siegt in ihm über das römisch-latini-
sirende Element. Seine Hauptwerke, die Kanzel in S. Andrea zu Pistoia
(seit 1301) und die ehemalige, jetzt nur in Ueberresten im Museo Civico er-
halteiie Domkanzel zu Pisa, zeigen namentlich in den Scenen des jüngsten
Gerichtes und des Kindermordes eine ausserordentliche Leidenschaftlichkeit,
gepaart mit trefflicher Naturbeobachtung. Von dem Umfange seiner Thäitig-
keit zeugen der seiner Leitung seit 1278 unterstellte Bau des Camposanto zu
Pisa und die ihm ebenfalls seit 1284 zugefallene Bauleitung am Dom zu Siena.
Zahlreiche kleinere Werke sind in jener Zeit aus seines und seiner Schüler
Hand hervorgegangen, namentlich Madonnenstatuetten, deren Typ weithin ge-
wirkt hat. Werke dieser Art, zu Prato, Padua, Pisa, Berlin, mehr oder weniger
als Arbeiten Giovaniifs beglaubigt, zeigen als Characteristicum den classisch-
"ernsten Ausdruck im Kopf der
7 Ä i, "Y , a] 'i_ Madonna, den durchdringenden,
25454,"?! i fast schreckhaften Blick in den
s'il Ihre Au eii des Kindes dessen Hand
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i, 3,2" V. f ij-u; die Madonnenstatue (so die-
'18. f ,sj jenige für S. Maria della Spina
f äyfi i 1' in Pisa) ebensoviel an Lieblicli-
t i keitund genrehafterAuffassung,
a, i, l a5 "i wie ihr Kraft und Bedeutung
ß " fälle-i der Figuren abhanden kommt.
Fig. 20. Vom Facadenschmuck des Domes zu Orvieto: VQÜ Giovannl Pisano Zwei"
Heimsuchung. (Phon Alinarh) gen sich zwei Schulen ab, welche
ihren Hauptsitz in Florenz und
Siena haben. Tino di Camaino (gest. 1339) kann als Hauptvertreter der
letztern erachtet werden. Ihm eignen das Grabmonument für Kaiser Hein-
rich VII (Fig. 18) im Camposanto zu Pisa (1315) und nebst andern früher
Giovanni zugeschriebenen Resten die berühmte Allegorie der Stadt Pisa. Das
bedeutendste Werk dieser Sieneser Schule ist aber der Facadenschmuck des
Domes zu Orvieto (vgl. Fig. 19 u. 20), den man früher auf Andrea Pisano
oder gar noch auf Giovanni zurückführen wollte. Heute neigt sich die For-
schung der Ansicht durchaus zu, dass seine Urheber Sieneser und sein Haupt-
ineister wol Lorenzo Maitani (1310-1330) gewesen sei. Die zwischen
den Portalen geordneten Reliefs, welche Andrea's Thüre in Florenz bereits
voraussetzen, erzählen die ganze Heilsgeschichte von der Schöpfung an bis
auf das Weltgericht: in ihrer Art ein Werk von einziger Vollständigkeit,
ikonographiseh immer noch anziehend, obgleich von den älteren Traditionen
bereits abweichend, an geistiger Kraft und Bedeutung hinter den Werken
Niccolois und Giovannfs weit zurückstehend. Das Nackte wird schon häufiger
zur Schau gestellt, ohne dass der Meister über hinreichendes Geschick in der
Bildung der Körper verfügt.