Einundzwanzigstes
Buch.
und will heute noch (lamit bald im beschränktem Sinne eine bestimmte kunst-
geschichtliche, bald im weitern Sinne eine Phase der allgemeinen Cultur-
entwicklung treffen. Im erstern Sinne dürfte sich der dem üblichen ,Rin a-
scimentd gleichwerthige Ausdruck ,Rinascita' zuerst im Prooemium zu
Vasarfs ,Vite' finden, wo das Auf- und Niedergehen der Kunst mit dem Leben
und Sterben des menschlichen Körpers verglichen und die kunstgeschichtliche
Bewegung, Welche der Verfasser zu schildern sich anschickt, als eine Erhebung
aus dem Ruin (rlisordine di rovina) aufgefasst wird 1. Aber die allgemeinere
Bedeutung des 'Wortes ist damit nicht erschöpft. Die neuere Kuustlitteratur
hat, im Anschlusso an Jakob Burckhardt, an die Franzosen Michelet, Quincf.
Taine, die Renaissance im weitern Sinne als die Verjüngung des menschlichen
Geistes, die Befreiung des Gedankens, den Aufschwung der Wissenschaften und
die Verfeinerung der Civilisation, das Aufsuchen und die Aneignung gesellschaft-
licher Distinction und künstlerischer Schönheit definirt, wie sie sich das Italien
des 15. Jahrhunderts unter dem Einflusse des wiedererweckten Alterthums
gewann. Diese Definition hat den Vortheil, über jene einseitige und unzu-
lässige Anschauung hinauszugehen, welche in der Renaissance wesentlich nur
die Erneuerung antiken Wissens und Könnens erblickte. Aber sie sagt ander-
seits zu viel und zu wenig 2. Sie besagt zu viel, indem sie diese Bewegung
in einen principiellen Gegensatz zum Christenthum bringt, den wir hier nicht.
zugeben können; sie sagt zu wenig, indem sie doch die ganze Bedeutung
dieser Evolution nicht ahnen lässt und das Charakteristische nicht hinreichend
trifft. In ersterer Beziehung geht freilich der neueste Prophet des philo-
sophischen Nihilismus noch viel weiter, wenn er die Renaissance ,als Um-
werthung des (lhristenthums auffasst, welches, ihm zufolge, die ganze Arbeit
der antiken Welt umsonst gemacht hatte, indem es die Krankheit heiligte' 3.
,Der Christ", meint Nietzsche, ,habe den Lebensinstinct verloren, indem er
seinen Schwerpunkt ins Jenseits legteh diesen Schwerpunkt ins Diesseits
wieder zul-ückverlegt zu haben, Wäre das Hauptverdienst und das Wesen der
Renaissance. Für die paganistische, epikureische Richtung des Humanismus
und der Renaissance trifft dies vollkommen zu: dehnt man diese Auffassung
auf die gesammte Bewegung aus, so verkennt man ihren Ursprung, ihren
Charakter und die Absichten ihrer besten und edelsten Vertreter.
Sinn Dass die Renaissance einfach identisch ist mit der Wiedererweckung der
d" Wmm Antike, ist früher fast allgemein geglaubt und selbst in neuester Zeit, wie
z. B. von Courajod, angenommen worden. Und doch sollte eigentlich seit
Burckhardts ,Cultur der Renaissance davon nicht mehr die Rede sein.
Scharf und klar hat dann Springer betont: falsch ist und bleibt die An-
nahme einer Herrschaft der Antike, sobald die Renaissancekunst sich regt;
wol begründet erscheint dagegen die Ueberzeugung von dem langsam rei-
fenden Siege der Antike über die andern Ideale der Renaissance." Nachdem
er betont hat, wie schlecht man die Hauptvertreter der Renaissance begriffen
haben würde, wenn man ihnen die Wiederholung antiker Formen und Ge-
stalten als bewusstes Ziel zumuthete und in einem rein antiquarischen Enthu-
1 VASARI Vite, ed. SANSOVINO T (Fir. 1898)
243: .c0n1e i corpi umani, hannu (le arti) (il na-
scere, il crescere, 10 invecchiare ed il nnurire)
Potranno m'a piü facilxxxente conoscerc il pro-
gresso della sua rinascita e di quella stessa
perfezione dove ella G: risalita ne' nostri tempif
2 Nlüwrz Histoire de 1' art pendant 1a
Renaissance I 1 s.
3 FRIElm. NIETZSCHE Der Antichrist. Ver-
such einen-Kritik des Christenthunxs. Lpz.1895.
4 SPRINGER Bilder aus der neuern Kunst-
gesch. I 213.