Die byzantinische Kunst.
erscheint bei ihm in höchster Vollendung. Er war in Syrien geboren, iu
Berytus Diakon geworden und kam unter Kaiser Anastasius nach Constanti-
nopel. Alle Wahrscheinlichkeit spricht dafür, dass mit diesem Fürsten Ana-
stasius I (491-518), nicht Anastasius II (713-716) gemeint ist. Das Auftreten
eines solchen poetischen Genies musste den Gedanken nahelegen, dass die in
ihm durchzitternde gewaltige Erregung der Phantasie nicht ohne eine Ein-
wirkung auf die bildende Kunst und die sie bedingende Inspiration geblieben
ist. Wo haben wir diese zu suchen, und wie stimmt damit das ungünstige
Bild, welches man sich von dem gesammten geistigen Zustand der Byzantiner
zu machen pflegte?
Bald nach dieser Entdeckung beschenkte uns Krumbacher mit seiner
,Geschichte der byzantinischen Litteratur", welche uns zuerst ein gesichertes
Bild von der Entwicklung und der wahren Bedeutung dieser Litteratur ver-
mittelte. Krumbacher billigte vollkommen Springers Ansicht, dass der Anfang
der echt byzantinischen Kunst nicht in die Zeit Justinians, sondern etwa in
die des Heraclius zu setzen sei. Auch die griechischen Schriftsteller des
6. und der ersten Hälfte des 7. Jahrhunderts zählen ihrer Anschauungsweise
und Form nach in den Ausgang des Alterthums, nicht in den Beginn einer
neuen Periode: ,sie bilden eine Nachblüte der antiken Litteratur, nicht eine
Vorfrucht des Byzantinismusf Nach der Mitte des 7. Jahrhunderts über-
rascht eine ungeheure Lücke, auf die Zeit glücklicher Production folgt eine
trostlose Verödung, und diese unfruchtbare Periode erstreckt sich von ca. 650
bis 800 bezw. 850. Von da ab lasst sich eine aufsteigende Bewegung be-
obachten, die im 12. und 13. Jahrhundert ihren Höhepunkt in einer litterari-
scheu Renaissance erreicht, die als letztes Aufblühen des Byzantinerthums
die grosse Epoche der Komneneu zeitigt.
Was Krumbacher für die byzantinische Litteratur gethan, das unternahm
Strzygowski für die byzantinische Kunst. Das abschätzige Urteil vergangener
Zeiten über die eine wie die andere sollte definitiv beseitigt und durch ein
ganz neues Bild ersetzt werden?
Demgemäss wird zunächst Springers Ansicht über die sogen. altbyzan-
tinische Kunst als gänzlich hinfällig bezeichnet. ,Bis auf Constantinß sagt
Strzygowski, ,wandelt die Kunst im Orient und Occident gemeinsame Bahnen,
dann übernimmt die in Oonstantinopel neu erstandene byzantinische Kunst
die Führung und dringt in Justinians Zeit zum Höhepunkt und allgemeiner
Herrschaft durch. Das, was sie bis dahin geschaffen hat, wird, von der figür-
lichen Monumentalplastik abgesehen, zu allen Zeiten in Byzanz festgehalten,
der Occident aber unterliegt seiner Altersschwäche und der Invasion der ger-
manischen Barbaren, deren Ornamentgeschmack im 8.-1O. Jahrhundert auch
die monumentale Kunst beherrschtf Strzygowski unterscheidet dann die alt-
christliche Kunst, die neben der Antike besteht und wie diese locale Ver-
schiedenheiten, aber im allgemeinen einen einheitlichen Grundcharakter zeigt,
der ein naiv-symbolischer ist, die nach dem 4. Jahrhundert in Italien sowol
wie im Orient (in dem Ausläufer der koptischen Kunst) kraftlos weiter existirt;
zweitens die altbyzantinische Kunst, welche nicht neben der Antike besteht,
sondern die Traditionen derselben aufnimmt und fortführt, daher die antike
1 München 1891. Vgl. auch KRUM-
BACHER über die byzantinische Litteratur in
der Allgem. Zeitung 1888, Nr. 353 f., Beil.
Kraus, Geschichte der christl. Kunst. I.
2 STRzYaowsKI Die byzantinische Kunst
(KRUMBACHERS Byzantinische Zeitschrift 1892,
S. 61-43).
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