Sechstes
Buch.
Der oder die Künstler haben frei von jeder Rücksicht auf die hergebrachte
Symbolik und Ikonographie gearbeitet; ihm kam es nur darauf an, das Auge
des Lesers durch malerische, wechselnde Scenen zu erfreuen (Probe Fig. 343).
Dem entspricht die Lebhaftigkeit der Gruppen und die an die pompejanischen
Fresken erinnernde Behandlung des Landschaftlichen. Kondakoff constatirt
ausdrücklich den realistisch-classischen Zug der Schilderung, der selbst na-
turalistischen Scenen (wie der Darstellung der Betrunkenheit Noe's, Lot und
seiner Töchter) nicht ausweicht Soenen, die von hier aus in die Mosaiken
von S. Marco überwanderten und in denen man seltsamerweise deutsche Ein-
flüsse hat sehen wollen. Bemerkenswerth sind gewisse Details der Technik.
Wie in der Virgilhandschrift des Vatican sind die Umrisse von Händen und
Füssen vielfach verschwommen und nur in vagen Strichen angedeutet. Dagegen
sind die Falten der Gewandungen mit starken schwarzen Strichen markirt,
und ebenso die Haare und Augenbrauen. Kondakoff unterlässt es nicht, diese
Beobachtung mit der Bemerkung zu begleiten, dass dies ein dem 4. Jahr-
hundert noch eigener Zug ist, den die byzantinischen Miniaturen nur selten
anwenden und der dann ganz aus ihnen verschwindet.
In der Wiener Genesis kommt die Illustration in dreifacher Weise in An-
wendung. Auf zwei Zierblättern steht inmitten eines reichen Blumenkranzes,
der es wie ein Medaillen einschliesst, je ein an den Ecken ausladendes, in der
Verticalhasta bereits verlängertes Kreuz, einmal zwischen zwei Tauben; das
Kreuz ist auf einen Untersatz gestellt, der in einer Bandschleife ausläuft. Diese
beiden Zierblätter, die wie Tafelgemälde dem Text vorgesetzt sind, haben zu
der Schrift gar keine Beziehung. Sie erscheinen wie eine Uebertragung der
auf Altären und Sarkophagfronten schon in der profanen Kunst auftretenden
reliefirten, später auch eingravirten Ornamente, welche bei den Arae eine
Zusammenstellung der auf den Cult bestimmter Götter sich beziehenden hei-
ligen Geräthe, bei den Sarkophagen schon gewöhnlich ein Monogramm oder
Kreuz, ganz ähnlich unseren gemalten Zierblättern, darstellen. Eine zweite
Kategorie der Illustration ist nichts anderes als die Verwendung eines Teppichs
zur Umrahmung einer Schriftseite, und zwar denkt Wickhoff zunächst an
den Fensterverschluss durch über Rahmen gespannte Tücher (die Jvnpan-
natcf), wie sie, ehe die Verglasung durchdrang, in Palästen und Basiliken des
Südens üblich war. Die Wiener Illustration zeigt ein bekanntes Textilmuster,
aus sich schneidenden Kreisen gebildet. Man erkennt hier den engen Zu-
sammenhang der Textilkunst mit der Miniaturmalerei; auf denjenigen mit der
Mosaikmalerei haben wir bereits aufmerksam gemacht. Eine dritte Illustrations-
kategorie sind die seit Eusebius üblichen und in unzählige Handschriften des
Mittelalters übergegangenen Kanonestafeln, in welchen die Parallelstellen der
Evangelien, durch griechische Zahlen angezeigt, in Columnen nebeneinander-
gestellt waren. Die Columnen wurden durch ein Rahmenwerk und durch Auf-
setzen einer rundbogigen Arcade über den die Reihen trennenden Säulen ge-
ziert. Man bemerkt hier jene seit dem Anfang des 4. Jahrhunderts angewandte,
früher zuerst an dem Palast des Diocletian zu Spalato beobachtete, jetzt als
nicht erst römische Erfindung, sondern als längst im Orient vorbereitet er-
kannte Constructionsform, wo mit Weglassung des Architravs die Arcaden
unmittelbar auf dem Capitell der Säulen aufliegen. Man beobachtet weiter, dass
der Zeichner mit den plastischen Formen der Architektur sich nicht zu helfen
weiss, dass die Säulen mit einem Flachornament decorirt sind (vielleicht in Er-
innerung an die Umkleidung derselben mit Teppichen). So wird ein erster