Einleitugä
geschichte gelangten genialen Kritiker zu der Beobachtung geführt, dass die
Eigenart jedes Künstlers sich in der Bildung bestimmter Gliedmassen, vorab
des Ohres, der Hand u. s. f., am sichersten zeige. Morelli gründete darauf
seine berühmte Experimentalmethode, in welcher er die mögliche Vereinigung
der strengen Methoden exacter Wissenschaften mit denjenigen der philosophi-
schen und historischen Studien zu erblicken glaubte. So beifallig, ja begeistert
diese Kennzeichenlehre in breiten Kreisen aufgenommen wurde, so erkannten
die berufensten Beurteiler doch ziemlich einstimmig, wie stark dieselbe wieder
subjective Willkür an die Stelle der eine sichere urkundliche Grundlage for-
dernden historischen Richtung zu setzen geeignet war, und wie gefährlich sie
unter den Händen weniger geistvoller Nachbeter des Meisters werden musste 1,
eines Meisters, dem ja grosse persönliche Eigenschaften innewohnten und
dem man u. a. das Hauptverdienst nicht abstreiten kann, im Gegensatz zu
der oft übertriebenen ,Beeinflussungstl1eorie' auf die örtlich bedingten Sonder-
züge der Einzelnen wie ganzer Schulen aufmerksam gemacht, gewissermassen
zuerst die eigenthümliche Mundart der einzelnen Landschaften in der bilden-
den Kunst aufgewiesen zu haben. Morellfs Einfluss, so gross er war, konnte
gleiehwol die historische Richtung auch unter den Italienern nicht aus ihrer
richtigen Bahn bringen; dafür zeugen die Arbeiten Cattaneois, Baldoriafs
Velltllriis, RiÖOlfVS, Boito's und vieler Andern, denen jetzt das Ar-
chivio storico dell' arte" als Organ ihrer Thätigkeit dient. i
D16 ülmgell Nationen Europas haben an der Ausbildung der neuesten Frankreich.
kunstgeschichtlichen Litteratur und Methode keinen in gleichem Masse führen-
den Antheil genommen. Am ergiebigsten ist jedenfalls die Bethatigung Frank-
reichs, wo die Rumohrschen Principien zuerst durch Rio bekannt wurden und
seither, unterstützt durch die bedeutenden Leistungen der französischen Kritik
(Ste-Beuve, Tainez u. s. sich eine rege, vielfach glänzende Thätig-
keit entwickelt hat, als deren Haupttrager seiner Zeit Blan c und die gelehrten
Architekten Viollet-le-Duc und Choisy, gegenwärtig Eug. Müntz 3,
de Lasteyrie, Courajod, Molinier, Gonse, als deren Hauptorgane
ausser der ,Revue archeologique" die ,Gazette des beaux-arts und das ,Journal
de Part" zu nennen sind.
England hatte bereits im vorigen Jahrhundert in der Gesellschaft der ,Dilet- England-
tanti' (seit 1734) und in derjenigen der ,Antiquariest (seit 177 0-1876) archäo-
logische Vereine, welche auch den kunsthistorischen Bestrebungen Mittelpunkt
und Anhalt boten. Auch im 19. Jahrhundert ist das antiquarische Interesse bei
den Engländern über das allgemein kunstgeschichtliche vorherrschend geblieben.
Letzteres hat seine Vertreter in Eastlake, Westwood,(1rowe,Ruskins.
1 LERMOLIEFF Die Werke d. ital. Meister
in den Galerien von München, Dresden und
Berlin. Lpz. 1880; Kunstkrit. Studien über
ital. Malerei. I. Die Gal. Borghese u. Doria
Panfili. Lpz. 1890. II. (herausgeg. v. G. FRIZ-
20m) Die Gal. zu Berlin. Lpz. 1893; Gal.
Roms, in d. ,Zeitschr. f. bild. Künste IX, 1;
X, 97; Le opere dei maestri ital. nelle gall.
di Monaco, Dresda e Berlino. Berl. 1886.
Völlig zustimmend verhalten sich u. a-I
J. P. RICHTER in s. Nekrolog Morellfs (Allg.
Zeitg. 1891, 6. April, Beil.), FRIZZONI,
F. v. SCHLOSSER (Allg. Zeitg. 1892, Nr. 219,
Beil). Man vgl. dagegen die Beurteilungen
Bomäs (Deutsche Litteraturzeitg. 1886, Nr. 42),
W. v. SEIDLITZ, (Repert. f. Kunstwissensch.
XIII. 114), Koormnuns (Preuss. Jahrb. LXV
[1890], 467) und JANITSCHEKS (Litter. Cen-
tralbl. 1891, Nr. 171).
2 TAINE selbst ist an unserm Gegenstande
hauptsächlich nur durch seine ästhetischen
Untersuchungen und durch seinen ,V0yage
cn Ita1ie' (2 vols.) betheiligt.
3 E. MÜNTZ Raphael. 25 ea. Par. 1886;
Hist. de Part pendant 1a. Renaissance. 3 vols.
Par. 1889-1895, u. v. a.