Eilleitvras;
den Satz, dass Naturwahrheit das oberste Gesetz aller echten Poesie und
Kunst ist, vollkommen stehen lassen, aber dabei bleibt doch die christliche
Kunst selbst jener Richtungen und Zeiten, welche den innern Zusammenhang
zwischen leiblicher und geistiger Schönheit im Sinne Platos nicht gelten lassen,
doch immer wahre Kunst. Gibt sie die Körperformen in ihrer Schönheit nicht
wieder, spricht sie selbst den Gesetzen der Anatomie und Perspective Hohn,
so spiegelt sie doch die Schönheit des menschlichen Auges, den seelischen
Ausdruck ab. Sie hat ihren Antheil an dem Gebot der Naturtreue, und zwar
im höchsten Sinne des Wortes, durch die Wiedergabe der seelischen
Affecte, der innerlichen Welt, und insoweit sie diese darstellt, steht
sie an echtem christlichen Realismus über der nachraffaelischen Kunst, welche
den Leib photographirt, aber die Seele vergisst 1.
Auf die dogmatische Stellung des Christenthums zur bildenden Kunst
kommen wir da zurück, wo wir sein Zusammentreffen mit der Antike und
damit seine historische Stellung zu dem Kunstleben der Alten zu erörtern haben 2.
Wir haben uns indessen zu dem zweiten der hier in Betracht kommenden
beiden Begriffe, demjenigen der Geschichte, zu wenden und uns zu fragen,
welche Absichten und Welchen Charakter die historische Betrachtung l1insicl1t-
lich des uns hier beschäftigenden Gegenstandes haben wird. Dass die Kunst-
geschichte nicht mehr wie ehedem nur eine Dienerin der Theologie, Philosophie
oder der allgemeinen Weltgeschichte sein solle, ist eine Forderung, die heute
wenn auch noch nicht allgemein zugestanden ist, so doch mehr und mehr
sich Bahn bricht. Aber gibt es für ihren Betrieb gewisse leitende Ideen?
Lassen sich für die Entwicklung des Kunstlebens ähnliche Gesichtspunkte auf-
stellen und anwenden, wie sie in der neuesten Historik und Poetik hervor-
getreten sind? Das Princip der ,Entwicklung' kann man im allgemeinen auch
für unsern Gegenstand zulassen. Aber es wäre bedenklich und gewiss irre-
führend, wollte man z. B. die Evolutionstheorie, wie sie Wilhelm Scherer
aufgestellt 3, oder die Generationslehre von Ottokar Lorenz"! auf die Ge-
schichte der bildenden Kunst anwenden. Rankes Wort bleibt auch heute noch
wahr: ,Der Weg der leitenden Ideen in bedingten Forschungen ist ebenso
gefährlich als reizend; wenn man einmal irrt, irrt man doppelt und dreifach;
selbst das Wahre wird durch die Unterordnung unter einen Irrthum zur Un-
Wahrheit." Die Beobachtung männischer und frauenhafter Epochen von je
drei Jahrhunderten in unserer Litteratur, ja überhaupt in der menschlichen
Entwicklung, hat etwas sehr Bestechendes; ich kann ihr indessen auf dem
1 Treffliche Betrachtungen hierüber fin-
den sich in Cnnncns schönem Aufsatz über
Dante: Dante and other Essays (Lond. 1889)
p. 132. 205.
2 Der Gegenstand ist in der Litteratur des
19. Jahrhunderts oft, wenn auch selten mit aus-
reichender Kenntniss des archäologischen Ma-
terials, verhandelt worden. Es sei hier nur
verwiesen auf SGHLEIERMACHER Reden über
Religion III, 167, Note 6. FR. v. SCHLEGEL
Ansicht u. Ideen über d. christl. Kunst. Neu
gcdr. Bonn 1871. LUTl-IARDT Ueber kirchl.
Kunst. 1864; aLpz. 1878. Knmuss Kunst
und Kirche. Lpz. 1865. ScuNAAsE Ueber die
Verhältn. der Kunst zum Christenth. u. bes.
zur ev. Kirche. Berl. 1892. M. A. V. BETIIMANN-
HOLLWEG Christenth. u. bild. Kunst. Bonn
1875. VVIESE Ueber das Verhältn. d. Kunst z.
Religion. Berl. 1878. KATZENBERGER Rel.
u. Kunst. 1849. Hottno, i. (l. Einl. zu sein.
Gesch. d. christl. Malerei (s. BETIIUNE
in der Rev. de Part chret. N. S. III, 159.
3 Vgl. WILH. 801111111212 Poetik. Berl. 1888.
4 OTTOK. Lonnuz Die Geschichtswissen-
Schaft in Hauptaufgaben und Richtungen.
1890. Vgl. dagegen E. BERNHEIM Lehrb. d.
hist. Methode. 2 Lpz. 1894:.
5 RANKE Zur Kritik neuerer Geschicht-
schreiber. Vgl. dazu LENZ in Preuss. Jahrb.
LXI, 339 f.