Es ist selbstverständlich, dass der Künstler bei seinen Darstellungen
nicht anatomisch denken, fühlen und sehen soll. Die anatomischen Kennt-
nisse brauchen in ihrer (Resamtheit. kein dauernder Besitz des Künstlers
zu sein; es genügt, wenn derselbe das Auge im anatomischen Sehen
gründlich geschult und wenn er einmal die Anatomie derart studiert hat,
dass bei ihm gewisse Vorstellungen in Bezug; auf die richtigen Formen
derart in Fleisch und Blut übergegangen sind, dass sie unbewusst das
künstlerische Schaffen beeinflussen. Ist dies erreicht, dann kann der
Künstler einen grossen Teil der von ihm gelernten Anatomie, namentlich
die Namen der anatomischen Teile und vieles Xebensächliche wieder ver-
gessen, um eventuell im gegebenen Falle seine anatomischen Kenntnisse
wieder aufzufrischen. Das anatomische Studium und die damit verbundenen
Sehübungen haben für die Zwecke des künstlerischen Schaffens dieselbe
Bedeutung, wie das Studium der klassischen Sprachen, der Mathematik
und ähnlicher Denkübungen für den Gelehrten. Der letztere vergisst
einen erheblichen Teil der in der Schule erworbenen Kenntnisse wieder,
der Xutzen dieser Studien und der damit verbundenen Denk- und Ge-
dächtnisübungen bleibt aber für das ganze Leben bestehen. Das Gleiche
gilt für den Künstler, welcher die erworbenen anatomischen Kenntnisse
zum Teil, namentlich die Namen der anatomischen Teile und das Neben-
sächliche wieder vergisst, der Nutzen der anatomischen Studien bleibt
ilnn aber für immer. Mit Leichtigkeit arbeitet sich derjenige, der ein-
mal Anatomie gründlich studiert hat, im gegebenen Falle wieder in die
Anatomie ein; ohne Schwierigkeiten gelingt es ihm, die Figuren in ana-
tomischen Werken zu verstehen und richtig aufzufassen u. s. w.
Die Ansicht, dass das Gefühlsleben des angehenden Künstlers durch
anatomische Studien geschädigt werde, dass die Naivetät seiner Auffassung
verloren gehe, vermögen wir nicht zu teilen. Das künstlerische Empfinden,
welches durch anatomische und andere Studien leidet, ist nicht echt.
Der echte, der geborene Künstler kann durch solche Studien unmöglich
geschädigt werden. Dies hat die Erfahrung der Jahrhunderte fest-
gestellt.
Betreffs des Studiums der Anatomie mochten wir bemerken, dass
sich der Künstler anatomische Kenntnisse in verschiedener Weise an-
eignen kann, z. B. durch das Studium guter anatomischer Abbildungen,
guter (typsabgüsse in Verbindung mit den entsprechenden Beschreibungen,
wie sie sich in den anatomischen Lehrbüchern finden. Die beste Art
aber, anatomische Kenntnisse zu erwerben, besteht zweifellos in dem
Skizzieren guter anatomischer Präparate, im Vergleichen der Verhält-
nisse des Präparates mit denen des lebenden Tieres und im Anfertigen
anatomischer Zeichnungen. Der Studierende, der angehende Künstler,