Notwendigkeit
anatomischer
Kenntnisse
für
den
Künstler
Manche Künstler sind der Ansicht, dass das Studium der Anatomie
für die Ausübung der bildenden Künste überflüssig, ja für viele angehenden
Künstler sogar nachteilig sei, indem es die naive künstlerische Gefühls-
empündung; schadige. Sie stützen sich in ihrer Anschauung Wesentlich
auf die griechischen Künstler, Welche in ihren Werken eine wunderbare
anatomische Genauigkeit zeigen, trotzdem sie keine eigentlichen anato-
mischen Kenntnisse besassen. Diese Thatsache ist aber so oft besprochen
und erklärt worden, dass es überflüssig erscheint, hier nochmals auf diesen
Punkt einzugehen?) Die Verhältnisse, unter denen die griechischen
Künstler schufen, unter denen diese grossen Naturalisten und Realisten
bei aller Naivetat der Empfindung ihre Seh- und Naturstudien machten,
kehren nicht Wieder. Staunend und bewundernd stehen Wir vor ihren
Werken, unvermögend ganz zu erfassen, wie diese Vereinigung des höchsten
Realismus und Idealismus bestehen konnte und wie es ohne anatomische
Studien, ohne Zirkel und Massstab möglich War, die grössten anatomischen
Feinheiten bei Menschen und Tieren festzustellen und zur Darstellung
zu bringen. Auf der anderen Seite wissen wir aber auch, dass in der
nachgriechischen Zeit viele Kunstwerke unter dem Mangel anatomischer
Kenntnisse ihrer Schöpfer leiden und dass im Mittelalter geniale Künstler,
wie Lionardo da Vinci, Michel Angelo, Raphael, Tizian u. A. die Not-
Wendigkeit anatomischer Studien betonten und sich denselben mit grossem
Eifer hingaben. Sicherlich kann das Genie ohne anatomische Ke11nt-
nisse zu besitzen, auch heute noch wundervolle Werke schaffen. Ebenso
sicher aber auch ist es, dass anatomische Kenntnisse dem genialen Künstler
das Sehen und Schaffen erleichtern und dass das Wissen häufig die
Grundlage des Könnens ist und dass das Wissen das Schauen und Sehen
schärft, erweitert und vertieft und damit das künstlerische Schaffen
i) Vergl. die Einleitung in: Duval, Grundriss der Anatomie für Künstler.
Autorisierte deutsche Übersetzung (1. Aufl. herausgegeben von weil. Prof. (Neelsen).
2. Auü. bearbeitet von Prof. Dr. Ernst Gaupp in Freiburg i. Br. Verlag von Enke
in Stuttgart 1901.