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Erstes Capitel.
Die Architektur und das Bauhandwerk.
gebaut und hinlänglich erhalten ist, um beurteilt werden zu können. Zunächst
ist bei einem der aus der ältern Periode stammenden Bauwerke, dem Peribolos
des Apollotempels, die schon einmal (oben S. 99) berührte und von Vitruv
(I, II, 6) streng getadelte Seltsamkeit hervorzuheben, dass die Säulen, welche
vor ihrer durch Tünche bewerkstelligten Umwandlung ionisch waren , ein
dorisches Gebälk mit Triglyphen und Tropfenregula tragen, weshalb man
früher auch die durch den Stucco verhüllten Säulencapitelle für dorische ge-
halten hat. Ganz dieselbe Verbindung ionischer und dorischer Ordnung kehrt
in dem Peristyl 36 der aus derselben Periode stammenden Oasa del Fauna
wieder (s. oben S. 351) und Ähnliches wiederholt sich in der Stuccodecoration
des Zimmers N0. 15 der Oasa di Sallustio 204)
Die (lellasäulen des Juppitertempels (Fig. 271 b) haben gedrückte Basen
und ein durch das fast gänzliche Fehlen des Polsters schwächliches, durch
schwerfällige Voluten steifes Capitell und der leichten Schlankheit erman-
gelnde Schäfte, bei denen die Art, wie die Cannellur über der Basis unmittel-
bar aufsetzt, sehr hart und unangenehm berührt; jedoch ist hier noch kein
fremdartiges Element beigemischt, wie dies bei den Pilastercapitellen der Ba-
silika (Fig. 271 c) der Fall ist. Diese nehmen schon Einiges (Blätteransätze
und eine Blume vor dem Polster und der Plinthe) aus der korinthischen Ord-
nung auf und bahnen jene Mischgattung an, welche man mit dem Namen des
compositen Capitells oder der römischen Ordnung zu bezeichnen, und für
welche man den Bogen des Titus in Rom als das früheste Beispiel anzugeben
pflegt. Wahrscheinlich aber haben wir in den Säulen des Pronaos des J uppiter-
tempels (Fig. 271 d) ein früheres Beispiel dieser aus Elementen des Ionismus
und der korinthischen Ordnung gemischten Gattung vor uns. Denn ob wir
die Capitelle dieser Säulen für rein korinthisch erklären können, ist zweifel-
haft. Freilich sind die Voluten abgeschlagen, aber der Bruch und die Fläche
derselben scheint deren einstiges Vorhandengewesensein in einer Größe zu
bezeugen, welche dem reinen korinthischen Stile nicht gemäß ist.
In Privatbauten ist die ionische Ordnung selten, jedoch immerhin nach-
weisbar. Außer den oben bereits erwähnten Beispielen aus der Oasa del Fauna
und derjenigen di Sallustio finden wir ein recht gefälliges aus der Oasa dei
capitellißgurati bei Zahn II, 36, ein anderes weniger anmuthiges aus der Casa
dei capitelli colorati daselbst 19 ; nicht minder ist das Peristyl in der Casa de!
l "imperatore Giuseppe II ionisch. Auch bei den Grabmälern sind die Elemente
des Ionismus seltener (und dabei nie ganz rein) verwendet, als man es bei der
alten Anwendung dieser Ordnung bei Gräbern erwarten sollte.
Am häufigsten findet sich, allerdings besonders in dem Pompeji der letzten
Perioden, in öffentlichen und Privatbauten die korinthische Ordnung, freilich
auch sie, die heitere Blüthe der Marmorarchitektur, selten ganz rein, meistens
mit Elementen vermischt, welche von der geistreichen Launenhaftigkeit der
Baumeister und von der Beschränkung durch das Material zugleich Zeugniss
geben. Am reinsten und elegantesten in Verhältnissen und Ausführung er-
scheinen uns die Capitelle von Marmor im Gebäude der Eumachia (Fig. 273 a),
ähnlich die am Grabmal der Mamia (Fig. 201), gegen welche die Formen der
Capitelle in der Basilika (Fig. 273 b) und die sehr ähnlichen des restaurirten