Zweiter Abschnitt.
Stil und künstlerischer Werth der Bauwerke in Pompeji.
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heißen müssten, wo gedankenlose Nachahmung das wenig Mustergiltige als
Muster und rechtfertigendes Vorbild betrachtet hat, Weil es auf classischem
Boden steht.
Zunächst darf nicht vergessen oder verschwiegen werden, dass eine Zeit
wie diejenige, aus der die neue Stadt Pompeji stammt, nicht nach einem
festen, einheitlichen, alle Kunstbewegungen beherrschenden Princip baut
und bildet, und deshalb auch, genau gesprochen, keinen eigenen Stil,
d. h. keine Kunstform hat, welche aus dem Volksbewusstsein mit Nothwendig-
keit so und nicht anders entspringt, und welche sich deshalb folgerichtig in
jeder einzelnen Schöpfung offenbart. Eine solche Zeit ist vielmehr die des
Eklekticismus. Und doch, wenn wir unter Stil die Kunstdarstellung gemäß
der eigensten und individuellen Anschauung eines Künstlers, eines Volkes oder
eines Zeitalters verstehn, so geht auch den architektonischen Leistungen der
Pompejaner in der letzten Periode ein Stil, ein gemeinsamer Charakter, ein
eigenthümliches Gepräge, und zwar überwiegend dasjenige der Üppigkeit, des
Strebens nach Mannigfaltigkeit und decorativer Heiterkeit nicht ab. Die aus
classischen Zeiten überlieferten Formen liegen auch den jüngsten Schöpfungen
der pompejaner Architekten zum Grunde, aber deren strenge Anwendung und
principielle Durchführung war diesem leicht lebenden Völkchen viel zu ernst
und einförmig; deshalb wird die Norm und das Gesetz überall überschritten,
und es entsteht eine Regellosigkeit, welche der strenge Kunstrichter, der den
Maßstab des reinen Princips anlegt, freilich in derselben Art verurteilen mag,
Wie Vitruv gegen die Phantasiearchitektur eifert, welche in seiner Zeit in der
Decorationsmalerei herrschend zu werden begann. Dennoch wird man nicht
verkennen, dass diese Regellosigkeit vielfach den Reiz besitzt, den die Über-
Sßhreitung strenger Formen und Gesetze durch geistvolle und muntere Men-
Schen fast überall im Leben auszeichnet. Freilich kann auch hier zu weit ge-
gangen werden; von der Überschreitung der Regel, von dem Verlassen des
Princips bis zur Verwilderung sind nicht gar viele Schritte. Und auch in
Pompeji finden wir in einigen der jüngsten Monumente Ausschweifungen,
welche als Ausartungen und als mindestens der Beginn verwilderter, des
innern Haltes barer Formgebung erscheinen. Ja man könnte eine recht
lange Liste von unglücklichen und unrichtigen Motiven aufstellen, doch mag es
genügen, einige der hauptsächlichsten deswegen hervorzuheben, weil sie nicht
selten nachgeahmt worden sind.
Eines der häufigsten schlechten Motive, welches aus dem Streben nach
Mannigfaltigkeit und Heiterkeit, der Furcht vor Eintönigkeit recht deutlich
hervorgeht, ist die abwechselnde Bekrönung sich wiederholender Wandfelder
zwischen Pilastern mit flachdreieckigen und tlachgewölbten Giebeln, von der
in den früheren Zeichnungen zwei Beispiele mitgetheilt sind, das eine in der
Mauer des Peribolos des Tempels des Genius Augusti (s. die Ansicht zuS. 117),
das andere in der als Album benutzten Seitenwand des Gebäudes der Eumachia
(Fig- 73, S. 135). Dieses letztere Gebäude, welches im Übrigen manches
Hübsche aufzuweisen hat, wie namentlich z. B. die schöne und reiche Thür-
einfassung von Marmor mit Arabesken, welche jetzt im Museum von Neapel
den Eingang Zum ersten Statuenzimmer bildet (s. die Probe weiterhin), ent-