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Sechstes Capitel.
Zeugnisse des Verkehrs und des Lebens nach Inschriften.
bar aus dem täglichen Leben hervor; dennoch besteht zwischen ihnen ein
Wichtiger Unterschied. Die Dipinti, allermeist an die Außenwände der Ge-
bäude, nur in öffentlichen Gebäuden auch im Innern, angemalt, leicht mit
dem gefugigen Material flüssiger rother oder schwarzer Farbe herzustellen und
vielfach, Vielleicht in der Regel von der Hand öffentlicher Schreiber (s. S. 472),
zeigen uns große, nicht selten mehr als fußgroße, dicke und deutliche Buch-
staben (vgl. z. B. Fig. 259 an der Spitze dieses Capitels); sie sind, meistens
ohne Mühe und schon in größerer Entfernung zu lesen und waren für die
Öffentlichkeit bestimmt. In ihnen spiegelt sich also das öffentliche, besonders
das communale Leben; YVahlempfehlungen machen ihren Hauptbestandtheil
aus, daneben Anzeigen, namentlich amphitheatralischer Spiele, dann auch zu
vermiethender Localitäten, verlorener Sachen und dergleichen Dinge, welche
leicht und schnell von den Vorübergehenden gelesen werden sollten.
Anders die Graffiti, welche mit einem Nagel oder einem ähnlichen spitzen
und scharfen Instrument in den zum Theil sehr harten und spröden Stucco
eingekratzt werden mussten, und welche daher selten aus großen, und wohl
fast nie, wenigstens nicht durchgängig, aus mehr als etliche Zolle großen,
dünnen, mehr oder weniger lang gezogenen, oft aus ganz kleinen, gekritzelten,
schwer, zuweilen gar nicht lesbaren Buchstaben einer sehr wenig kalligraphi-
sehen Cursivschrift bestehn, zu der nicht selten allerlei an Kunstwerth mit der
Schönheit der Schrift wetteifernde Zeichnungen sich gesellen (vgl. die Proben
weiterhin) In diesen Graffiti, welche die WVande sowohl im Innern der
Gebäude, in Zimmern, Gangen, Küchen u. s. w., wie außen in Anspruch
nehmen, hat das Leben der Individuen mit allen seinen Eindrücken, hat gute
und schlechte Laune, Scherz, Witz, Neckerei und bis zum bittersten Hohn
gesteigerter Spott, Übermuth und Langeweile in Versen und Prosa ihren Aus-
druck gefunden; da finden wir Lesefriichte aus Dichtern, Stücke von Rech-
nungen, Fragmente von Briefen, Erinnerungen an Gladiatorenspiele, Empfeh-
lungen von Gasthäusern und Kneipen und Erinnerungen an deren Treiben,
gute und schlechte Lebensweisheit, Grüße und Liebesseufzer neben Verwün-
schungen und Angebereien bunt neben einander, kurz Alles und Jedes, was
in irgend einem Augenblick die Seele irgend eines alten Pompejaners bewegte,
oder dessen schriftlicher Ausdruck einen Zweiten zu einer Entgegnung, gele-
gentlich einen Dritten zu einer Duplik anregte. Waren nun auch viele dieser
Graffiti gewiss nicht alle bestimmt, von Anderen gelesen zu werden, so
kann man ihnen doch den Charakter der Öffentlichkeit, welchen die Dipinti
tragen, im Allgemeinen absprechen und sie als den Spiegel des Privatlebens
bezeichnen. Um so werthvoller aber sind sie für uns, denen sie einen Einblick
in innerliche, vertrauliche und zum Theil heimliche Verhältnisse dieses seit
achtzehn Jahrhunderten erloschenen Privatlebens gestatten, wie ihn kaum
irgend eine andere Überlieferung des Alterthums zu vermitteln im Stande ist.
Beginnen wir unsere Umschau in diesem Schatze von antiken Lebens-
äußerungen mit den Dipinti. Die größte Zahl derselben besteht, wie gesagt,
aus Wahlempfehlungen, durch welche die Aufmerksamkeit der Wahlberech-
tigten auf den einen oder den andern Candidaten für das Duumvirat oder die
Aedilitäit (denn meines YVissens kommen nur diese vor) von Seiten dessen oder