Die Privatgebäude.
Die Wohnhäuser.
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wie überhaupt das öffentliche Leben der Alten, welches gewissermaßen als der
Geschichte angehörend betrachtet werden kann, uns ungleich bekannter und
in zahlreicheren und zusammenhangenderen Zeugnissen überliefert ist, als ihr
Privatleben, so sind auch die Monumente des öffentlichen Lebens, Tempel und
Hallen, Basiliken, Theater und Amphitheater, Straßen, Wasserleitungen und
Bäder u. a. aus fast allen Theilen der alten YVelt in viel größerer Zahl auf uns
gekommen; sie sind in ihren mehr oder weniger erhaltenen Ruinen lange
bekannt, gemessen, gezeichnet und studirt worden, ehe der erste Spatenstich
zu Pompejis Ausgrabung gethan wurde, und zugleich sind gegen viele dieser
Reste alter Tempel, Theater und sonstiger Bauten die pompejanischen öffent-
lichen Gebäude klein, unbedeutend und stehn namentlich in künstlerischem
Betracht mit Wenigen Ausnahmen auf einer nicht allzu hohen Stufe. Von den
Privathäusern der Alten aber war vor Pompejis und Herculaneums Entdeckung
monumental sehr WVeniges vorhanden; denn die Trümmer einiger Paläste und
Villen der Großen und Gewaltigen, welche wir außer den beiden verschütteten
Städten haben, können hier nicht mitzählen, weil sie von der Norm bürger-
licher Wohnhäuser weiter entfernt sind, als irgend ein Privatgebäude -Pom-
pejis. Und auch die einzeln erhaltenen Fundamentruinen und die allerdings
in der antiken Litteratur vorhandenen Beschreibungen ländlicher Villen brin-
gen uns der Kenntniss des gewöhnlichen bürgerlichen Wohnhauses etwa und
kaum so nahe, wie die Ruinen der s. g. Villa des Diomedes in Pompeji. Von
dem Normalhause, namentlich von dem Hause in der Stadt ist kaum anderswo
die Rede, als in Vitruvs Architektur, wenigstens nirgend im Zusammenhang
und anders als in gelegentlicher Erwähnung einzelner Räumlichkeiten. Ab-
gesehn aber davon, dass Vitruvs Beschreibungen durch die Bankinicht die
klarsten und für uns doppelt schwierig zu verstehn sind, weil sie sich auf
Abbildungen beziehn, die uns verloren gegangen, abgesehn ferner von der
Unklarheit, welche mit dem Mangel monumentaler Anschauung unausbleiblich
verbunden ist, haben wir bei Vitruv nichts, als die starre mittlere Norm, das
Gesetz schlechthin, und zwar für das, was er bei seinen Lesern als bekannt
voraussetzen mußte. Diese Norm aber ist nach hundert verschiedenen Um-
ständen hundertfach verschieden angewendet worden, und erst die Kenntniss
dieser verschiedenen Anwendungen des Gesetzes verschalft uns ein lebendiges
und anschauliches Bild von der Stätte, in welcher sich das nach den Umständen
und Verhältnissen mannichfaltig gestaltete Privatleben der Alten bewegte. Eine
Solche Kenntniss ist aber, und zwar nur, durch Pompejis Häuser und die we-
nigen vermittelt, die man in Herculaneum hat bloßlegen können; und welches
der Gewinn dieser Anschauung sei, das lernen wir recht würdigen, wenn wir
unsere auf die Wohnungen Pompe_jis gegründete Kenntniss des römischen
'Hauses mit der Kenntniss von dem griechischen Hause vergleichen, die nur
auf einer unklaren Normalbeschreibung Vitruvs und auf zerstreuten Stellen
deralten Schriftsteller beruht.
Wir haben den pompejanischen Wohnhäusern gegenüber eine doppelte und
nicht leichte Aufgabe zu lösen. Einerseits nämlich sind die unsäglich reichen
Einzelheiten der uns vorliegenden Monumente, wenn auch natürlich nur in
einer Auswahl, zu beschreiben und zu erklären; wir müssen die Mannichfaltig-