KELTISCHE
ORNAMENTE.
Tafel LXIV. Wo solches anging, ward das Band winkelförmig ausgedehnt, um gewisse Stellen in der Zeich-
nung auszufüllen, wie Fig. ll, Tafel LXIV. Die einfachste Modiiication dieses Musters ist natürlich das
doppelte Oval, wie man es in den Winkeln der Fig. 27, Tafel LXIV., sehen kann; und welches in griechi-
schen und syrischen Handschriften, wie auch in römischen Mosaikfussböden, sehr häufig, aber in unsern
frühen Manuscripten nur selten vorkommt. Eine andere einfache Verzierungsform ist der sogenannte
Dreischenkel, der sehr häufig in Handschriften und Metallarbeiten gefunden wird. Fig. 36, Tafel LXIV.,
ist ein Muster, in welchem vier dieser Dreischenkel vorkommen. Fig. 30 und 35 derselben Tafel sind
Modiflcationen dieses Musters.
Noch ein anderes charakteristisches Ornament, welches im überschwänglichen Maasse in frühen Werken
aller Art angebracht wurde, ist die Darstellung monströser Thiere, Vögel, Eidechsen und Schlangen jeder
Gattung, von höchst übertriebener Länge, und mit Schwänzen, Kopfschleifen und Zungen versehen, die in
langen verschlungenen Bändern ausgehen, und aufs fantastischste mit einander verwoben sind; die Anord-
nung ist zuweilen symmetrisch, zuweilen unregelmässig und darauf berechnet, gewisse Stellen gehörig aus-
zufüllen. Manchmal, doch nur selten, findet man ähnliche Darstellungen von menschlichen Figuren. In
einem der Felder des Kreuzes von Monasterboice, im Crystal Palace, sieht man vier menschliche Figuren
auf sonderbare Weise verschlungen, und auch auf einer der Buckelverzierungen des Bischofsstabes von Lis-
more, Eigenthum des Herzogs von Devonshire, sieht man mehrere ähnliche fantastische Figuren. Beispiele
von verschlungenen Thiergruppen dieser Art finden sich Tafel LXIII. Zu den verwickeltsten Mustern
dieser Gattung gehören die Gruppen von acht Hunden (Fig, 17, Tafel LXV.) und von acht Vögeln (Fig.
15, Tafel LXV); beide aus einer der Handschriften zu St. Gallen gezogen; das eleganteste Muster aber
ist die Randverzierung (Fig. 8, Tafel LXV.) aus dem Evangelienbuch von Mac Durnan, Lambeth Palace.
In den spätern irischen Handschriften, so wie in denen von Wallis, berühren die Ränder der verschlungenen
Bänder einander, und die Zeichnung überhaupt ist bei Weitem nicht so geometrisch und so deutlich klar.
Die sonderbare Zeichnung (Fig. 16, Tafel LXV.) ist nichts anderes als der Anfangsbuchstabe Q, des Psalms
Quid Gloriaris, im Psalter des Ricemarchus, Bischofs von St. David, vom Jahre 1088. Die Zeichnung soll ein
monströses Thier vorstellen, über dessen Schnauze sich eine Kopfschleife nach vornhin erstreckt, während eine
andere Kopfschleife ein ausserordentliches Gewinde über dem Kopf des Thieres bildet, der Hals ist mit einer
Perlenschnur verziert, der Leib ist lang und winkelförmig, und endet in zwei verdrehten Beinen mit schreck-
lichen Klauen, und der Schweif ist mit verwundenen Knoten versehen, die das Thier gewiss nicht ohne grosse
Schwierigkeit zu lösen im Stande sein würde. Oft bildet der Kopf eines Thieres oder eines Vogels allein
das Schlussornament einer Zeichnung, wie man in verschiedenen Mustern der Tafel LXIV. sehen kann, und
das aufgesperrte Maul und die lange Zunge bilden einen Schlusszierrath, der nicht ohne Grazie ist.
Das eigenthümlichste unter allen keltischen Mustern aber ist jenes, welches aus drei oder vier spiralför-
migen Linien entsteht, die von einem bestimmten Punkt ausgehen, während die entgegengesetzten Endpunkte
derselben sich gegen den Mittelpunkt eines aus andern Spirallinien gebildeten Knäuels hinbewegen. Die
Fig. 1, 5 und 12, Tafel LXV. stellen mehr oder weniger vergrösserte Beispiele dieses Ornaments dar, wäh-
rend Fig. 22 in wahrer Grösse reproducirt ist. Fig. 3, Tafel LXIII., zeigt wie dasselbe Motiv in ein
diagonales Muster verwandelt werden kann. In den Handschriften, wie auch in den schönern und ält-ern
Metall- und Steinarbeiten, nehmen diese Spirallinien immer die Richtung eines C nie aber eines S an.
Dieser Umstand, sowohl als die Unregelmässigkeit der Zeichnung selbst, beweisst, dass das Centralornament,
Fig. 1, Tafel LXIII., von der Hand eines Künstlers sein müsse, der in der wahren keltischen Zeichnung
Wenig bewandert war, und es verräth einen gewissen Grad von Nachlässigkeit oder von auswärtigem Einiiusse.
Dieses Muster heisst auch das Trompetenmuster, weil der Raum zwischen je zwei Linien die Gestalt einer
alt-irischen Trompete hat, dessen Mundstück mittelst des aus kleinen Punkten bestehenden Ovals dargestellt
wird, das am breiten Ende in schräger Richtung angebracht ist. Dasselbe Muster findet sich auf mehreren
kreisförmigen Gegenständen von Bronze, etwa einen Fuss im Durchmesser, die man oft in Irland ßndet,
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