Volltext: Die Dekorationsformen des 19ten Jahrhunderts

Neuklassizismus 
und 
Romantik. 
Die im letzten Viertel des 18. Jahrhunderts beginnende, durch die erste Hälfte des 19. Jahr- 
hunderts fortdauernde, neue Kunstepoche unterscheidet sich von allen früheren durch den scharf hervor- 
tretenden Gegensatz der gleichzeitig nebeneinander hergehenden Hauptrichtungen, der Neuklassik und 
Romantik, welche sich selbstverständlich auch in der Dekoration zwiespaltig ausprägen. Die neue 
Epoche fällt mit tiefgehenden Umwälzungen auf geistigem und politischem Gebiet zusammen, die sich 
über alle europäischen Kulturländer erstrecken. Die alle Autorität, sowohl die kirchliche wie die staat- 
liche, untergrabende Philosophie führt zu revolutionären Umwälzungen, die eine Art chaotischer Ver- 
wirrung zur Folge haben. Die Proklamierung der Menschenrechte, der Grundsätze der Freiheit, Gleich- 
heit und Brüderlichkeit, obgleich nur ein schimmerndes Trugbild, scheint die Grenzen der Nationalitäten 
zu verwischen, zugleich giebt die Erhebung des sogenannten „dritten Standes" dem Leben der Völker 
eine neue, breitere Grundlage. Anfangs schafft diese Bewegung nur Trümmer; und auch die nicht mehr 
von der Geistlichkeit, dem Hofe, dem Adel getragene Kunst verliert alle Spuren des blendenden Glanzes, 
den die früheren grossen Epochen ausstrahlten. Man bemerkt zwar viele, sich durchkreuzende Bewegungen, 
aber keine mächtige, alles mit sich fortreissende, einheitliche Entwicklung. Im ganzen erscheint die 
Menschheit im 19. Jahrhundert von anderen als von Kunstinteressen hauptsächlich in Anspruch genommen. 
Wenn unser Jahrhundert als das des Fortschritts in den Naturwissenschaften und ihrer Anwendung auf 
das tägliche Leben, als die Zeit der Dampfschiffe, der Eisenbahnen, der Ausbeutung des Eisens und der 
Elektrizität charakterisiert wird, so ist das keine inhaltslose Phrase, sondern wird unzweifelhaft von der 
späteren Geschichtsschreibung seine Bestätigung finden. 
Aber, da es unmöglich ist, dass die Kunst, dieser notwendige Ausdruck des geistigen Lebens 
der Völker, untergeht, so finden wir bald wieder über den Trümmern des Alten ein Streben nach neuen 
Idealen. Dieses Streben hat Wahrheit, Natur und innerliches Empfinden als Devise auf seine Fahne 
geschrieben, und damit der verzopften und verschnörkelten Kunst der jüngst vergangenen Zeit den Krieg 
erklärt. Das 19. Jahrhundert sieht sein Ideal in der Verklärung der Arbeit auf geistigem und physischem 
Gebiet, ganz im Gegensatz zur antiken Welt, welche zwar die Kämpfe der Heroen schätzte, aber doch 
nur als Übergang zum mühelosen Dasein der Halbgötter. 
Auf die stilistische Zwiespältigkeit der neuen Kunst, die sich weit entschiedener äussert, als dies 
schon in der Zeit des Rokoko und des Zopfstils der Fall war, ist bereits als auf eine Hauptcharakteristik 
Ebe, Dekorationsformen des 19. Jahrhunderts. 1
	        
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