ZWÖLFTES
CAPITEL.
Tizian
und
Pordenone.
Wir haben bisher Tizianfs künstlerischen Entwicklungsgang
bis zu der Höhe geleitet, auf welcher er, wie man denken sollte,
in seinem Gebiet Niemanden mehr zu fürchten hatte. Dennoch
ist Thatsache, dass er nur durch beständige grosse Anstrengung
sich behauptete und das unbehagliche Gefühl eifriger und sogar
gefährlicher Nebenbuhlerschaft iriemals ganz los wurde.
Im Bereiche der gesammten Staffeleitechnik und besonders
im Bildnissfache konnte es freilich kein Zeitgenosse mit seiner
Erfahrung und seinem Geschmack aufnehmen, aber es gab, wie
wir schon sahen, ein grosses Feld seiner Kunst, zu dessen Be-
meisterung er nicht hervorragend begabt war; ja er würde ver-
muthlich die Ueberlegenheit wenigstens Eines der damaligen Ve-
nezianer in der Wandmalerei selbst anerkannt haben. Auch konnte
er sich nicht verhehlen, dass seiner Malerpraxis geschäftlich eine
Grenze gezogen war, einerseits durch das Maass seiner Arbeits-
kraft, andrerseits aber auch durch Neigung und Vermögen des
Publikumsrdie von ihm beliebten Preise zu zahlen.
War er aber im Wesentlichen auf die Einnahmen angewiesen,
Welche componierte Staffeleibilder und Porträts ergaben, so konnte
wieder nicht ausbleiben, dass er die letzteren als eintraglicher be-
vorzugte. In der That nehmen wir in der Zeit, von welcher jetzt
die Rede ist, eine gewisse Vernachlässigung der Composition bei
ihm wahr, die dem Auge der Zeitgenossen nicht verborgen blieb
und den Schein der Einseitigkeit erzeugte. Die Verstimmung war
Crowe. Tizizm n. 25