CAP.
XIII.
füR
DErCKENGEMÄLDE
SPIRITO.
113d
das Kind zu beobachten; er gibt den eigenthümlichen Charakter
dieses erquicklichen Wesens mit Wunderbarer Breite des Vortrags
wieder, ohne es dabei an Feinheit der Durchbildung mangeln zu
lassen. Das Fleisch ist kräftig und geschmeidig, das Gleich-
gewicht von Licht und Schatten ebenso wahr wie überraschend
in der Zartheit seiner Nüancen und Lokalfarbung, sowie der har-
monischen volltönigen Gesammtstimmung; über dem Ganzen liegt
eine entzückende Glanzatmosphäre, so dass wir Wohl begreifen,
wie Aretin beim Anblick des Bildes ausrufen konnte: "Wäre ich
ein Maler, ich stürbe vor Verzweiflung . . . . Aber es ist ge-
wiss, Tizian's Pinsel hat nur das Alter seines Herrn abgewartet,
um seine Wunder ganz zu enthüllen." "ß
An technischer Meisterschaft gleichstehend, aber einer höheren Venedig,
Gattung künstlerischer Leistung angehörig, bezeichnen die für 5113333
S. Spirito- gemalten, jetzt in die Salute übertragnen Deckenstücke 331mm
und das etwas später entstandene Pfingstbild die höchste Staffel
venezianischer Kunst um die Mitte des 16. Jahrhunderts. Sie sind
sammtlich von erstaunlicher Originalität des Gedankens und der
Composition und alle gleich merkwürdig durch die Kühnheit
ihrer Behandlung. Am meisten gilt dies von den Deckenbildern.
Hier erreicht Tizian einen Eindruck räumlichen Abstandes, der
bis dahin von den Venezianern nie versucht worden war. In der
Darstellung des zum Opfer seines Sohnes schreitenden Abraham,
dem der Engel in das hocherhobene Schwert fallt, ist die ganze
Gruppe dergestalt verkürzt, als sahen wir den Vorgang an hoher
Stelle, zu der wir nothwendig aufschauen müssen. Das Merkwür-
dige aber ist der Takt, vermöge dessen der Maler gleichzeitig
mit den Figuren auch ihren Standboden verkürzt, indem er den
Felshügel, auf Welchem der Scheiterhaufen Isaaks steht, in der
Untersicht zeichnet, sodass er Füsse und Beine des Patriarchen
theilweise verhüllt und weiter zurückstehende Gegenstände nur
bruchstückweise sehen lasst. Wie von magnetischer Kraft ist der
311d im Paläste des Herzggs Strozzi in Rom (s. Bottari, Racc. di lett. pitt. III. S. 107);
gestochen ist es von Dom Cunego in Rom 1770, im Umriss bei Rosini Vf S. 276.
"o s. den Brief Aretin's an Tizian, Venedig 6. Juli 1542 in den Lettere di
M. P. Aretino II. S. 288 v.