ÜAP
XIII.
EIN
ABEND
BEI TIZIAN
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die Jahreszeit, die Gäste und die Natur des Festes boten. Wir
waren geradelbeinl Nachtisch, als Eure Briefe ankamen, und da
in Folge des Lobes der lateinischen Sprache die toscanische Tadel
erfuhr, wurde Aretin ganz wild und hätte, wenn er nicht verhin-
dert worden Wäre, sicherlich eine der gräulichsten Invectiven in
die Welt geschleudert; denn er verlangte leidenschaftlich nach
Tinte und Papier, obgleich er schon genug mit Worten gelästert
hatte. Kurz, die Abendgesellschaft nahm ein höchst ergötzliches
Ende. 3
Wenn wir auch über die früheren Beziehungen Tizian's zu
den Humanisten am Beginn des Jahrhunderts nicht viel sagen
können, jetzt Waren sie herzlich und ehrenvoll für ihn. Die Schil-
derung Priscianeses von seinem Besuche bei Tizian erinnert an
einen Vorfall, der Einblick in einen glänzenden und gefeierten
Kreis des damaligen Roms gewährt und lässt uns den Unterschied
erkennen, welcher zwischen der gesellschaftlichen Stellung des
grössten venezianischen Meisters und dem einsiedlerischen Wesen
Michelangelds bestand. Priscianeses Brief ist an Lodovico Becci
und Luigi del Riccio gerichtet, Namen also, welche die Dialoge
des Donato Giannotti unsterblich gemacht haben. Riccio, der
Dichter, der die Sonette Michelangelds häufig durchsah und an
ihnen feilte, geht eines Tages mit Antcnio Petreo spazieren und
begegnet Buonarroti, der in Gesellschaft Donatds vom Capitol
kommt. Dieser Letztere Wendet sich an Michelangelo mit der
Bitte, auf Grund seiner Kenntniss Dante's die Streitfrage des Lan-
dino zu entscheiden, wie lange wohl der göttliche Dichter beim
Besuche der Unterwelt und des Fegefeuers zugebracht haben
möge. Es entspinnt sich ein Gespräch, wobei Michelangelo sich
3 Der Brief, vollständig abgedruckt bei Ticozzi, Veoelli S. 97, Anmerkung,
befindet sich in der I. Ausgabe von Priscianese's "Gramatica latina", von welcher
die Markus-Bibliothek ein Exemplar besitzt. Sie hat folgendes Impressum: Stam-
pato in Venezia per Bartolommeo Zanetti nel mesc di Agosto MDXL (vgl. Bel-
trame's Tiziano Vecellio S. 64). Aretin gab in einem Briefe vom 28. November
1540 dem Priscianese nach Rom Bericht über die Einführung seiner Grammatik in
mehreren Schulen Vonedigs (s. Lettere di M. P. Arotino II. S. 173 Jaeopo
Nardi widmete seine Uebersetzung des Livius dem Marchese del Vasto und Aretin
begluckwünschte ihn bei Herausgabe dieses Werkes im Jahre 1545 (s. Lettere di
M.P. Aretino II. S. 268).
Crowe, Tizian II. 27