Volltext: Tizian (Bd. 2)

ÜAP 
XIII. 
EIN 
ABEND 
BEI TIZIAN 
409 
die Jahreszeit, die Gäste und die Natur des Festes boten. Wir 
waren geradelbeinl Nachtisch, als Eure Briefe ankamen, und da 
in Folge des Lobes der lateinischen Sprache die toscanische Tadel 
erfuhr, wurde Aretin ganz wild und hätte, wenn er nicht verhin- 
dert worden Wäre, sicherlich eine der gräulichsten Invectiven in 
die Welt geschleudert; denn er verlangte leidenschaftlich nach 
Tinte und Papier, obgleich er schon genug mit Worten gelästert 
hatte. Kurz, die Abendgesellschaft nahm ein höchst ergötzliches 
Ende.  3 
Wenn wir auch über die früheren Beziehungen Tizian's zu 
den Humanisten am Beginn des Jahrhunderts nicht viel sagen 
können, jetzt Waren sie herzlich und ehrenvoll für ihn. Die Schil- 
derung Priscianeses von seinem Besuche bei Tizian erinnert an 
einen Vorfall, der Einblick in einen glänzenden und gefeierten 
Kreis des damaligen Roms gewährt und lässt uns den Unterschied 
erkennen, welcher zwischen der gesellschaftlichen Stellung des 
grössten venezianischen Meisters und dem einsiedlerischen Wesen 
Michelangelds bestand. Priscianeses Brief ist an Lodovico Becci 
und Luigi del Riccio gerichtet, Namen also, welche die Dialoge 
des Donato Giannotti unsterblich gemacht haben. Riccio, der 
Dichter, der die Sonette Michelangelds häufig durchsah und an 
ihnen feilte, geht eines Tages mit Antcnio Petreo spazieren und 
begegnet Buonarroti, der in Gesellschaft Donatds vom Capitol 
kommt. Dieser Letztere Wendet sich an Michelangelo mit der 
Bitte, auf Grund seiner Kenntniss Dante's die Streitfrage des Lan- 
dino zu entscheiden, wie lange wohl der göttliche Dichter beim 
Besuche der Unterwelt und des Fegefeuers zugebracht haben 
möge. Es entspinnt sich ein Gespräch, wobei Michelangelo sich 
3 Der Brief, vollständig abgedruckt bei Ticozzi, Veoelli S. 97, Anmerkung, 
befindet sich in der I. Ausgabe von Priscianese's "Gramatica latina", von welcher 
die Markus-Bibliothek ein Exemplar besitzt. Sie hat folgendes Impressum: Stam- 
pato in Venezia per Bartolommeo Zanetti nel mesc di Agosto MDXL (vgl. Bel- 
trame's Tiziano Vecellio S. 64). Aretin gab in einem Briefe vom 28. November 
1540 dem Priscianese nach Rom Bericht über die Einführung seiner Grammatik in 
mehreren Schulen Vonedigs (s. Lettere di M. P. Arotino II. S. 173  Jaeopo 
Nardi widmete seine Uebersetzung des Livius dem Marchese del Vasto und Aretin 
begluckwünschte ihn bei Herausgabe dieses Werkes im Jahre 1545 (s. Lettere di 
M.P. Aretino II. S. 268).  
Crowe, Tizian II. 27
	        
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