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LETZTE WERKE.
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der Form innerhalb der Grundtöne eines Verfahrens bediente,
welches geradezu an die Art erinnert, in welcher der Bildhauer
seinen Thon knetet. Sogar die feinen Nachdrücke und Lasuren,
Welche der Masse Leben und Elasticitat verleihen, sind nicht
ganz untergegangen. Durchweg beobachten wir die Thätigkeit
einer Hand, die nie ermüdete und kein Zittern kannte. Die Ge-
stalten und Physiognomien, die uns Tizian hier in ersehütterndem
Affekt verführt, sind dieselben, die vom Reiz der Jugend um-
spielt in seinen idyllischen Gebilden erscheinen. Sie sind ge-
wachsen mit seinem eigenen Wachsthum, erst zu völligerer Blüthe
und schwellender Anmuth, nun endlich zu kräftiger Alters-
harte. Die Jungfrau, Joseph von Arimathia und lllagdalena
zeigen ausgereifte und vollentwickelte Typen; die Magdalena
auf der Mantuanisehen „Grablegung" und diese der Pieta von
1576 bezeichnen Anfang und Höhepunkt einer physischen Ent-
wicklung, deren einzelne Staffeln wir mit dem Meister durchlebt
haben. Betrachtet man unser Bild aus unmittelbarer Nähe, so
wird das Auge wie durch ein Chaos von Farbendriickern beun-
ruhigt, in der richtigen Entfernung aber sammelt sich der Ein-
druck und wir unterscheiden Alles, was der geniale Greis aus-
sprechen Wollte. Die Gruppe Maria's mit dem Sohne athmet
eine pathetische Grösse, welche an die Pieta Michelangelds
streift; aber an Stelle der übernatürlichen Gemessenheit, welche
die eigentliche Leidensemptindung aufhebt, tritt bei Tizian die er-
habenste Leidenschaft, gesteigert durch das Ausdruckselement der
Farbe. Noch einmal erklingt über uns diese gewaltige Sprache,
deren Töne wir haben entstehen und sich zu immer vollerem
Akkord anschwellen hören und nun ist die Zeit erfüllt.
Die Pest fand den Weg auch in das stille Viertel von Biri
Grande: am 27. August erlag ihr der mächtige Mann, der allen
gewöhnlichen Anfechtungen der Natur unnahbar schien, inmitten
einer vor panischem Entsetzen fassungslosen Zeitgenossenschaft.
Das drakonische Ausnahmegesetz verbot die Bestattung eines
Opfers der Epidemie in den Kirchen; aber bei Tizian ward
davon abgesehen. Seinem früheren Wunsche gemäss ordnete die
Signorie an, dass er bei den Frari in jener Kapelle des "Ge-