CAP. XX. "CHRISTUS MIT DER DORNENKRONE." 679
Gegenstand, den ein Anderer vorgezeichnet hat, mit demselben
Krafteinsatz behandelt wie eine selbständige Erfindung. Der Unter-
schied zwischen der sozusagen officiellen und der aus eigenem An-
trieb hervorgegangenen Malerei tritt in der letzten Periode Tizian's
augenfallig hervor, wenn man jene „Allegorie von Lepanto" mit
dem „dornengekrönten Christus" der Münchener Pinakothek ver-
gleicht: dort ist der Mangel natürlicher Inspiration ebenso empfind-
lich Wie hier der rein innerliche Zweck. Das Bild War ohne Be-
stellung um seiner selbst Willen gemalt. Es stand unvollendet in
des Meisters Atelier, wo es eines Tages Tintoretto sah, der es
sich zum Geschenk erbat und dann als Muster eines modernen
Gemäldes bewahrte. Beim Sohne Tintorettds lernte es Boschini
kennen und beschreibt es „als ein Wunderwerk, das einen Platz
in der Akademie verdiene, um den Studenten daran die Geheim-
nisse der Kunst zu zeigen und sie zu lehren, die Natur nicht
herabzusetzen, sondern zu vervollkommnenß"
Die Composition unterscheidet sich von derjenigen im'Louvre lllünclxen,
sowohl durch die Beleuchtung wie durch die Anordnung. Der Pinakothek"
Schauplatz ist ein düsterer Gang, nur spärlich durch das flackernde
Licht einer fünfarmigen Hängelampe erhellt. Der Mann, Welcher
im früheren Bilde den Erlöser anspeit, ist weggelassen, der
Soldat im Vordergrunde rechts kniet hier nicht, sondern steigt
die Stufen hinan, indem er in der linken Hand eine Streitaxt
hält und mit der rechten an die Wand fasst; hinter ihm ein Jüng-
ling mit einem Bündel Ruthen. Der Anzug des eben beschriebenen
Mannes ist bunt und farbenprächtig, er besteht aus grünem Feder-
hut und roth und grünem Rock mit citronen-gelbem Aermel. Die
Behandlung, welche freilich durch Schaden und Retouchen theil-
weise unsichtbar geworden ist, ahnelt der des Laurentius-Bildes
im Escurial; die Färbung ist reicher, die Handlung mächtiger als
auf dem früheren Bilde im Louvre, welches dagegen mehr Sorg-
falt der Behandlung zeigt. Naturwahrheit und Unmittelbarkeit
des Affektes vereinigen sich mit Grösse der Airordmlng, Har-
monie des Lineamentes und ausdrucksvoller Lichtftihrung, sodass
Boschini, R.
Min,
Vorwort, und Ridolfi I. 270.