NEUNZEHNTES
CAPITEL.
Tizian's
Alters Stil.
Noch am Ausgangs des 16. Jahrhunderts war Italien das
Land der weiblichen Heroen, jener erlauchten Frauen, welche
wie Vittoria Colonna, Veronica Gambara und Isabella von Este
ihre Zeitgenossenschaft mit der Macht des geistigen und sittlichen
Genie's beherrschten. Es war die Zeit, da Frauen von Geburt
und Vermögen entweder in die Einsamkeit der Klöster gebannt
wurden oder ganz dieselbe Erziehung erhielten wie die Männer.
Sie studierten Latein und Griechisch und lasen zum mindesten
die besten alten Autoren in der Uebersetzung. Der öifentlichen
Welt zurückgegeben traten sie dann mit dem doppelten Rüstzeug
der klassischen Bildung und der Reize ihres Geschlechtes auf.
Zu diesen auserlesenen Erscheinungen gehörte auch Irene
von Spilimberg. Obgleich sie nur ein Alter von zwanzig Jahren
erreichte, war sie berühmt wegen ihres Wissens, ihrer poetischen
Begabung und ihres Talentes für Musik und Malerei. Selbst-
verständlich konnte ein so hochbegabtes Wesen nicht in Venedig
leben, ohne in irgend eine Beziehung zu Tizian zu treten, und
wenn auch das künstlerische unter allen ihren Talenten das ge-
ringste gewesen sein mag, so bleibt es doch ein Verlust für die
Welt, dass sie hinweggerafft ward, ohne sich weiter darin ver-
vollkommnen zu könnenf Tizian war mit Irene's Grossvater,
1 s. Dionisio Atanagi, Rime di diversi in morte della Signora Irene, Venedig
1561, und Maniago, Storia delle belle arti Friulane S. 125, 280 und 371.