CAP.
XVII.
"JOHANNES
IN DER WÜSTE."
gleichartige Bart zeugen ebenso von Zähigkeit und Energie wie
die scharfgeschnittenen Brauen und das strengblickende schwarze
Auge, welches die unsichtbare Versammlung, zu der er mit win-
kender Hand redet, zu bannen scheint. Er steht am Fasse eines
Felsens, neben sich das zusammengekauerte Lamm; scheinbar
ruhig, aber doch tief innerlich bewegt schaut er sich um, das
Rohrkreuz im linken Arm, mit Welchem er die härene Kutte
raift, um in den Strom zu treten und die Taufe zu vollziehen.
Er steht da wie ein Mann, der von der Höhe des Philosophen
auf die durchduldeten Kämpfe des Menschenlebens zurückschaut.
Die ganze Erscheinung ist die eines Bewohners der Wildniss,
dessen nackte Brust und Beine hell gegen die Bäume und Gräser
des Thales schimmern, das Weithin von schroifen Berghalden
gesäumt ist. 58 Der Eindruck der gesammelten Potenz wird erhöht
durch das wettergebräimte Fleisch und die durch farbenreiches
strahlendes Licht stark betonte Physignomie, in Welcher sich
Charakter und Schönheit vollkommen verbinden. Ausschliesslicher
als auf irgend einem andern Werke des Meisters sind die Flächen
des Fleisches mittelst der Verarbeitung soliden Pigmentes her-
gestellt, nur da durch Roth, Grau oder Schwarz gebrochen, WO
die Monotonie der glatten Masse es erforderte. Der-selben Kunst
begegnen wir sogleich mit beinahe der nämlichen Wirkung auf
58 Venedig, Akademie N0. 366, Leinwand h. 1,97 M, br. 1,33 M. Sämmt-
liche Kunstsehriftsteller des XVII. Jahrhunderts erwähnen es in S. Maria Maggiore.
Die Erhaltung ist gut; an dem Stein, worauf Johannes den Fuss setzt, steht
„TIOIANVS". Der Felsen und einzelne Stellen am Himmel zeigen Spuren V01!
Ausbesserung. Manche Eigenheiten der Bewegung wie die von Hand und Gelenk
des Johannes weisen auf Paolo Veronese; selbst den Kopftypus hat dieser aufge-
nommen. Gestochen ist es von Lefebre und im Werke des Patina 1809, gegen-
seitig von Jacob Haedcn, photographiert von Naya. Die Wiederholung in der
Sakristei des Escurial weicht insofern ab, als der Kopf mit einer Art flehender
Geberde emporgewandt ist und die Hand eine Rolle hält; auf dem Steine steht hier:
"TITIANVS FACI Als wir das Bild sahen, hatte es sehr schlechtes Licht
und sah verdüstert aus. Wie es ins Escurial gekommen, ist unbekannt. Ein
"Johannes in der Wüste" befand sich auch in der Sammlung des Niecolü Cornaro
in Venedig (s. die Bemerkung des Martinioni zu seiner Ausgabe von Sansovinos
Von. deser. S. 374). Eine andere kleine NVicderholung befand sich längere Zeit
als „0riginalskizze Tizian's zum Johannes" bezeichnet in der Casa J acobi in Cadore
und kam in unserm Jahrhundert in Besitz des Signor Galeazzo Galeazzi in Venedig
(vgl. handschriftliche Bemerkung bei J acobi in Cadore).
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