214
Anhang.
Gewandtheit philosophisch geschulten Begriffebildens und
Systeme aufstellenden Schlussvermögens Verstanden wird, in
der unsere Zeit so glänzend vorwarts geeilt ist. Wie unend-
lich weit aber Lionardo von dieser Denkmanier entfernt
war, geht am schlagendsten aus dem Umstand hervor, dass
er sich nicht einmal entschloss, seinem Schriftnachlass die
stets angestrebte oder vorschwebende einheitliche Gestalt zu
geben; und diese Aufzeichnungen enthalten doch lauter ein-
ander nahverwandte und durch eine gemeinsame Absicht ver-
knüpfte Dinge. Er aber wiederholt unverdrossen einzelne
Fälle zu häufigen Malen und sucht jeden derselben von
vielen verschiedenen Seiten zu beleuchten. Dass der einzelne
Fall von allen Seiten her verständlich werde und bleibe, war
ihm hochwichtig, und. sein practisches Naturell warnte ihn
davor, denselben voreilig irgend einem allgemeinen "Schema
unterzuordnen, in welchem er vielleicht doch nicht mit der
ganzen Summe seiner Eigenheiten aufgegangen sein möchte.
Das ist ja aber gerade Eigenheit der philosophischen Manier.
dass ihr das Systeme-bilden, das Aufstellen zusammenfassen-
der Dogmen -freilich auch das Fallenlassen der aufgestellten
so leicht wird. Wollten wir es aber dem Lionardo zum
Vorwurf machen, dass sein anschauliches Denken nicht bis
zu übersichtlicher Zusammenordnung gelangte, so würde seine
Vertheidigung auf der Hand liegen. Er entschädigt uns, erstens,
indem er wirklich keinem einzelnen Fall Gewalt anthut, und
zweitens, durch das Hervergehen einer practisch verwend-
baren Arbeitsmethode, die sich dem Uebenden erschliessen
wird, welcher, die an Stelle von ästhetischen Dogmen stehen-
den anschaulichen Kunstwerke des Meisters im Auge, dem
Sinne seiner zerstreuten Aufzeichnungen zustrebt.
Das Denken des Lionardo war jenes einfach anschau-
liche des Künstlers, zu welchem nichts als gesunde practische
Beobachtungsgabe und gesunder Menschenverstand nöthig zu
sein scheinen. Denkt man an die kindlich anmuthende sinn-
liche Freude des Besehreibens, die sich z. B. in der Anwei-
sung "Einen Sturm", oder „Eine Schlacht zu malen", aus-
spricht, so kann man hieran nicht zweifeln. Freilich möchte