228
natürlichen Kräfte des Menschen übersteige oder doch zu über-
steigen scheine, eine solche Summe von Wissen sich anzueignen
und zu beherrschen. Und fährt dann wörtlich fort: „Wenn sie
aber (aus den vorstehend gegebenen Erklärungen) erkannt haben,
dass alle Wissenschaftszweige unter sich eine sachliche Ver-
bindung und Gegenseitigkeit haben, so werden sie leicht glauben,
dass es geschehen könne; denn die übersichtlich Alles umfassende
Wissenschaft ist wie Ein Körper aus diesen Gliedern zusammen-
gesetzt. Und so erkennen Diejenigen, welche von frühester Jugend
auf in verschiedenen Vorkenntnissen unterrichtet werden, in allen
Wissenschaften dieselben Grundzüge und eine Gegenseitigkeit aller
Wissenschaftszweige, und erfassen dadurch Alles leichter."
Dass diese Erwartungen nun nicht etwa fromme Wünsche ge-
blieben, ersehen wir aus dem vierten Abschnitte des Vorwortes
zum sechsten Buche, wo Vitruv mit einer gewissen inneren
Bewegung schreibt: „Deshalb sage ich meinen Eltern den grössten
und unbegrenzten Dank und trage ihn auch im Herzen, dass
sie mich in einer Kunst unterrichten liessen, und zwar
in einer Kenntniss, welche nicht ohne gelehrte Bildung und ohne
eine umfassende Kunde von allen Wissenschaftszweigen auf Voll-
kommenheit Anspruch machen kann". Was die Alten und
die Meister des Cinquecento, die den gleichen Prinzipien gehul-
digt, nun mit Hülfe dieser vielseitigen Kenntnisse erreicht haben,
beweisen uns der Panthenon und die Kuppel von St. Peter, des
Phidias Zeus und Michelangelds Moses, Apelles Anadyomene
und Leonardo's Abendmahl. Wir wissen auch, wie weit die
Erwähnten in der Erreichung der Naturwahrheit gelangt sind,
dass aber höher noch als diese, die Beobachtung des Eben-
masses, der Proportion und Harmonie geschätzt wurde, obschon
das Lob, welches man der Aehnlichkeit zollte, kaum noch zu
überbieten war. Vor allen Malern durch seine Gelehrsamkeit,
sein unermüdliches Arbeiten hervorragend, wodurch er sich, wie
Quintil. XII. 10, und Plinius XXXV. 40, 4: berichten, in jeder
Gattung der Kunst und des Wissens ausgezeichnet, wird Euphra-
nor vom Isthmus genannt, der auch Bücher über das Ebenmass
und die Farben geschrieben hat. Dass er aber nicht allein mit
diesen von ihm gerühmten Bestrebungen gestanden, beweist uns
das Zeugniss des Didvmus und Eustathius (ad vers. 392 Iliad.
demzufolge jeder Künstler Gotpög genannt worden. Wie hoch
aber das Studium der Mathematik gestellt worden ist, und wie
man namentlich die Kenntniss der Geometrie und Optik für den
bildenden Künstler geschätzt, geht aus Tzetzes (Chiliad. XI
histor. 381 und Chil. VIII hist. 193), der um das 12. Jahr-