53
Begabung und Leistung getrennt betrachten und
bei der Einschätzung der Leistung dem deutschen
Künstler zu gute halten müssen, dass er unter den
ungünstigsten Umständen zu schaffen gezwungen war.
Seine Erziehung pflegte so spät einzusetzen, als
wenn ein Klaviervirtuose mit dem Beginn der Aus-
bildung bis zum Eintritt in das zwanzigste Lebens-
jahr warten wollte. Sie war staatlich geregelt, ihr
Zugang stand allen offen. Es gab seit dem zweiten
Drittel des jahrhunderts unendlich viel mehr Künstler,
als das Leben brauchte. Die alten Mächte, die die
Kunst getragen hatten, waren verschwunden oder
in ihrem Kern verwandelt. Fürst und Äristokratie
waren vom Schauplatz zurückgetreten, die Kirche
hatte sich der lebenden Kunst abgewandt und_
pflegte ausschliesslich archaisierende Tendenzen.
Der Staat, der an die Stelle des Fürsten getreten
war, förderte Kunst durch des Organ der unpersön-
lichen Kommissionen, deren Beschlüsse dem Genius
nicht günstig sein konnten. Die Bourgeoisie war
künstlerisch vollständig ungebildet. Sie und die
Organe des Staates begünstigten in der Kunst, was
sie begreifen konnten, also nur zufällig einmal, was
sich über den Durchschnitt erhob. Seit der Mitte des
jahrhunderts wuchs zu ungeheurer Macht der Kunst-
handel, den seine geschäftlichen Interessen zunächst
zur Begünstigung des leicht absetzbaren Mittelgutes
führten und der erst spät in der Aufsuchung der
Verkannten ein Spekulationsgebiet entdeckte. Zu
derselben Zeit erhob sich, von Jahrzehnt zu Jahr-