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Wenn ein Deutscher nur der ist, der ein per-
sönliches und herzliches Verhältnis zu den grossen
Dichtern und Künstlern der Nation gewonnen und
sich mit ihrer Lebensenergie, ihrem Geiste gefüllt
hat, dann dürfen nicht viele, die unsere Sprache
reden, die Zugehörigkeit beanspruchen. Millionen
werden alljährlich in Deutschland für die Pflege der
Kunst ausgegeben, aber sie wird nicht da. gepflegt,
wo sie allein der Pflege bedarf: in der Seele des
heranwachsenden Geschlechtes. Unsere ganze Bil-
dung beschränkt sich auf die Seite des Verstandes,
die sich reglementieren lässt. Wenn wir erzogen
würden, mit der Seele ein Werk der Dichtkunst
aufzunehmen, wären die über alle Vorstellung kläg-
lichen Zustände unserer Litteratur dann denkbar?
Und wenn wir Kunst fühlen lernten, wäre so viel
Roheit und Barbarei in Ansicht und Urteil mög-
lieh, wie uns alle Tage gegenüber-tritt?
Wir sollten in diesen Erinnerungstagen an drei
der grössten deutschen Genien uns geloben, dass
wir, soweit unsere Kraft reicht, dafür wirken wollen,
in der heranwachsenden Jugend die Kraft der Em-
pfindung zu wecken und zu stärken, damit für
alle grosse Kunst, die wir in Musik, Malerei und
Dichtkunst ererbt haben, die Seelen da sind, in
denen sie lebendig werden kann, und damit
die neuen Genien, die das Geschick uns sendet,
die Seelen finden, die ihnen ein Echo zurückwerfen,
ehe das Alter sie gebeugt oder der Tod sie hin-
gestreckt hat.