Santi
Rafael.
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in die Lehre trat. der in einer ähnlichen Richtung sich befand,
wie Leonardo, aber bei geringerem Maasse des Talents und der
Tietfe derlienntnisse im Einzelnen. Dennoch hatte diese Vorschule
auf Rafael den giixistigsten Einfluss, da sie ihm, wenn auch auf
der Grundlage einer beinahe ltandwerlismiissigen Erlernung der tech-
nischen Fertigheiteti, die höhere Richtung der Iinnst bezeichnete,
welche auf Wahrheit und sittlicher Schönheit beruhet. Allerdings
musste aber Rafael hierauf in eine Hochschule wie die zu Florenz
kommen, auf dass (lie in ihm liegenden Heime zu höherer Entwi-
ckelung, zu wissenschaftlicher Begründung heranreiften, und sein
Genius zu miinnlichetn Bewusstseyn gelangte, wie Passavant sagt.
Welchen tiefen Eindruck die grussartige Behandlungstveise des Ma-
saccio auf ihn ausgeübt, wie er dieselbe Richtung, verbunden mit
der tiefsten lienntniss aller Hiilfsmittel einer vollendeten Kunst, in
den YVerlten des Leonardo da Vinci bewundert, wie er die
bliiltende CEFDEJÜOYI und breite ßehandlungsweisc ._es Fra ßartolo-
nieo sich anzueignen gesucht, haben wir schon oben gesehen.
Hieraus entstand Hafaefs zweite oder florentinische Manier, die
sich nach Passavant aber nicht allein durch gründliches Studium.
und eine breitere Behandlungsart auszeichnet, sondern nach seiner
Individualität auch durch eine grössere Lebendigkeit und Wahrheit
in der Auffassung des Gegenstandes, durch eine seelenvolle Ver-
knüpfung eines jeden einzelnen Theiles und durch eine jugendliche
Gemiithlichheit, Welche, verbunden mit seinem einzigen Schönheits-
sinn, seinen VVerken einen bis dahin ungekanntexi Zauber verlie-
hen. Rafael hatte aber damals nach einen beschrijnlsten Wirltungs-
kreis, in Weitester Ausdehnung öffnete sich ihm dieser erst in Rom.
Dass hier die nie erreichte Grussartiglteit der Schöpfungen fVlichcl
Angelifs ihre Wirkung auf den empfänglichen Sinn des Urbinaten
nicht verfehlten, haben wir ebenfalls schon weiter oben bemerkt,
aber gezeigt, dass er auf dem VVege der Nachahmung nie zu sei-
nem grossen lluhme gelangt wäre. Nachdem er Michel Angela's
Darstellungsweise kennen gelernt hatte, nahm er nur in einzelnen
Füllen die üusseren Formen desselben und nur vorübergehend an;
er erkannte bald die ihm bis dahin verborgen gebliebene tiefe, im
VVesen und in der Natur des iVlc-nscltcn gegründete Basis, von der
er nun selbst auszugehen strebte. Er verliess daher seitdem das
Portraitmiissige, wie wir es noch im Vvaxidbiltl der Theologie er-
blicken, und suchte mehr die GPttlHliylJEX] der Charaktere und For-
men, ohne jedoch seine objektive Behandlungsweise zu verlassen,
wodurch er die höchste Mannigfaltigkeit zu crzeugeti vermochte,
während lVlichel Angela das Verschiedenartigste gleichmiissi-g be-
handelte, das Zarte und Sanfte, eben so wie das Gewaltige und
Erhabeue. Bei dieser ltichtung. welche Rafael "eingeschlagen hatte,
konnte die antike Iiunst nur einen geringen Einfluss auf ihn üben,
da das Princip derselben dem seinigcn entgegengesetzt ist". Die
ganze antike Welt dachte und bildete plastisch, in ihr ist die Form
überwiegend; die moderne, christliche Welt dagegen beruht in ih-
rer Denkweise auf Offenbarung, deren Medium die Seele ist, da-
her die höhere Ausbildung der Malerei, die durch Licht und Farbe,
gewissermassen durch geistige Mittel, sich als _gceigncter erweist,
das Seelenleben (larzustellen, und dieses hat bei Rafael das Ueher-
gewicht. VVenn er daher mythologische Gegenstände behandelte,
so sah er sich, seiner Richtung folgend, geimöthiget, ein der anh-
ken Kunst fremdes Element in seine Darstellungen einfliessen und
manche Ziige darin vorwalten zu lassen, wodurch ilteselbtan recht:
eigentlich in das Reich der modernen Iiunst herüber gezogen WM:-
den. Rafaefs reicher Genius ertasste mit gleicher Lust, mlt glei-