Ingres ,
Jean
Au guste
Dominiqlue.
453
stehen. Ingrds leitete die französische Schule zu einemgriindli-
chen Studium der menschlichen Form und des inneren geistigen
Lebens, das sich in den verschiedenen Lagen auch Vßffifllllßclex] in
Miene und Stellung auspräget. Er gehört mit Delaroche, Dela-
croix und Descamps zu den Glanzpunlsten dcr französischen Ma-
lerei unserer Tage, und dennoch ereifert sich die Iiritik fast bei
jedem neuen Bilde, dessen sie von lngres ansichtig wird. Vor
einer Anzahl von Jahren war er durch seine Vorliebe fiir Rafael
und die damals allzu slalavischc Nachahmung von dessen Wlauier
und der Anordnung der Gemälde jenes gefeierten Künstlers ein
Gegenstand des Spottes, und sogar der Verfolgung geworden, bis
er endlich auch bei seinen Landsleuten Ansehen gewann.
Ingres hat mit Iiraft und Ausdauer einen Weg verfolgt, der ihn
zum Ziele liihrte, aber durch Hindernisse aller Art, da er zu einer
Zeit von den herrschenden Ansichten abwich, in welcher David
noch das Scepter führte und der Gesetzgeber-des Geschmackes war;
aber die Kraft, durch die er endlich den Sieg errang, ist ein Zeug-
niss seines künstlerischen Berufes. Die Franzosen finden ihn in-
dessen noeh immer nicht über den Tadel erhoben, obgleich sie
nicht umhin können, ihm hohe Vorzüge einzuräumen. So konnte
man 1834. bei Gelegenheit der Ausstellung seines Gemäldes mit dem
lVIartertode des heil. Symphorian hören und lesen, dass der Iiiinst-
ler die Schönheit der regelmiissigen natürlichen Form, und den Glanz
eines ausdrucksvollen Colorites vernachlässige. lVIan schalt ihn Stilm-
Per und Sonderling in Hinsicht auf Form und Farbcngebung. So
streng konnten jedoch nur die Anhänger der Schule des Nebenbuh-
lers urtheilen. Der Farbenton des Gemäldes ist allerdings dunkel und
trübe, aber es spricht daraus Gemiith und (Poesie, und die Fleisch-
theile treten mit grosser Wahrheit und plastisch hervor. Auch die
technische Ausführung verräth eine Meisterhand, so wie sie sich
in allen VVcrken des Ingres offenbart. Dieser Iiiinstler ist in den
Geist RafaePs eingedrungen, und bei ihm zeigt sich überall tiefes
Nachdenken über die Nlittel der Darstellungk Das Einzelne ist
in seinen Gemälden immer dem Ganzen so untergeordnet, dass
nichts vernachlässiget erscheint, und dennoch kein Detail von der
Hauptsache störend abwendet. Hierin gewahrt er eines Verzuges,
dessen sich so wenige französische Künstler rühmen können. Der
einfache strenge Styl der Composition, die richtige Zeichnung,
die Tiefe der Gedanken, der Adel und die Erhabenlieit der Ge-
stalteri sichern den Werken dieses Künstlers einen klassischen
Werth, obgleich mehrere durch keinen Farbenschmuck zu fesseln
vermögen. Diesen Theil der Kunst scheint Ingres als unwesentlich
betrachtet zu haben, nie aber gebricht es ihm an Grossai-tigkeit.
Was nun den Vergleich mit Delaroche anbelangt, so sucht In-
gres nicht die Naturgemiissheit und geschichtliche Wahrheit; er
wagt den Flug in das Reich der Phantasie. Sein Geist verweilt
in der_ reichen Welt-des Alterthums und in derrcligiösen Zeit
des Mittelalters, aber nicht um mit der Treue eines LIistoi-ilaers
die Vergangenheit unseren Blicken vorüberzuführen, sondern durch
die Phantasie verschönrt, in höherem Lichte. Er ist Dichter,
zum Ideal begeistert. Er beabsiehtiget das Erhabene und die sitt-
liche Grazie, er will das Schöne durch das Sittliche veredeln.
Seine Elemente sind Stärke und Adel der Seele, Aufopferung, V2?-
achtung des Todes, Kampf gegen das Schicksal, Begeisterung h"
das höchste Wesen, Aufschluss des Innern der Seele. Er betrach-
tet Alles von einem höheren Standpunkte, als Dßlnocllß, und
steht auch höher als dieser.
Ingres hat eine bedeutende Anzahl von Werken geliefert, ilcrcn