Volltext: Haspel - Keym (Bd. 6)

Ingres , 
Jean 
Au guste 
Dominiqlue. 
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stehen. Ingrds leitete die französische Schule zu einemgriindli- 
chen Studium der menschlichen Form und des inneren geistigen 
Lebens, das sich in den verschiedenen Lagen auch Vßffifllllßclex] in 
Miene und Stellung auspräget. Er gehört mit Delaroche, Dela- 
croix und Descamps zu den Glanzpunlsten dcr französischen Ma- 
lerei unserer Tage, und dennoch ereifert sich die Iiritik fast bei 
jedem neuen Bilde, dessen sie von lngres ansichtig wird. Vor 
einer Anzahl von Jahren war er durch seine Vorliebe fiir Rafael 
und die damals allzu slalavischc Nachahmung von dessen Wlauier 
und der Anordnung der Gemälde jenes gefeierten Künstlers ein 
Gegenstand des Spottes, und sogar der Verfolgung geworden, bis 
er endlich auch bei seinen Landsleuten Ansehen gewann. 
Ingres hat mit Iiraft und Ausdauer einen Weg verfolgt, der ihn 
zum Ziele liihrte, aber durch Hindernisse aller Art, da er zu einer 
Zeit von den herrschenden Ansichten abwich, in welcher David 
noch das Scepter führte und der Gesetzgeber-des Geschmackes war; 
aber die Kraft, durch die er endlich den Sieg errang, ist ein Zeug- 
niss seines künstlerischen Berufes. Die Franzosen finden ihn in- 
dessen noeh immer nicht über den Tadel erhoben, obgleich sie 
nicht umhin können, ihm hohe Vorzüge einzuräumen. So konnte 
man 1834. bei Gelegenheit der Ausstellung seines Gemäldes mit dem 
lVIartertode des heil. Symphorian hören und lesen, dass der Iiiinst- 
ler die Schönheit der regelmiissigen natürlichen Form, und den Glanz 
eines ausdrucksvollen Colorites vernachlässige. lVIan schalt ihn Stilm- 
Per und Sonderling in Hinsicht auf Form und Farbcngebung. So 
streng konnten jedoch nur die Anhänger der Schule des Nebenbuh- 
lers urtheilen. Der Farbenton des Gemäldes ist allerdings dunkel und 
trübe, aber es spricht daraus Gemiith und (Poesie, und die Fleisch- 
theile treten mit grosser Wahrheit und plastisch hervor. Auch die 
technische Ausführung verräth eine Meisterhand, so wie sie sich 
in allen VVcrken des Ingres offenbart. Dieser Iiiinstler ist in den 
Geist RafaePs eingedrungen, und bei ihm zeigt sich überall tiefes 
Nachdenken über die Nlittel der Darstellungk Das Einzelne ist 
in seinen Gemälden immer dem Ganzen so untergeordnet, dass 
nichts vernachlässiget erscheint, und dennoch kein Detail von der 
Hauptsache störend abwendet. Hierin gewahrt er eines Verzuges, 
dessen sich so wenige französische Künstler rühmen können. Der 
einfache strenge Styl der Composition, die richtige Zeichnung, 
die Tiefe der Gedanken, der Adel und die Erhabenlieit der Ge- 
stalteri sichern den Werken dieses Künstlers einen klassischen 
Werth, obgleich mehrere durch keinen Farbenschmuck zu fesseln 
vermögen. Diesen Theil der Kunst scheint Ingres als unwesentlich 
betrachtet zu haben, nie aber gebricht es ihm an Grossai-tigkeit. 
Was nun den Vergleich mit Delaroche anbelangt, so sucht In- 
gres nicht die Naturgemiissheit und geschichtliche Wahrheit; er 
wagt den Flug in das Reich der Phantasie. Sein Geist verweilt 
in der_ reichen Welt-des Alterthums und in derrcligiösen Zeit 
des Mittelalters,  aber nicht um mit der Treue eines LIistoi-ilaers 
die Vergangenheit unseren Blicken vorüberzuführen, sondern durch 
die Phantasie verschönrt, in höherem Lichte. Er ist Dichter, 
zum Ideal begeistert. Er beabsiehtiget das Erhabene und die sitt- 
liche Grazie, er will das Schöne durch das Sittliche veredeln. 
Seine Elemente sind Stärke und Adel der Seele, Aufopferung, V2?- 
achtung des Todes, Kampf gegen das Schicksal, Begeisterung h" 
das höchste Wesen, Aufschluss des Innern der Seele. Er betrach- 
tet Alles von einem höheren Standpunkte, als Dßlnocllß, und 
steht auch höher als dieser.  
Ingres hat eine bedeutende Anzahl von Werken geliefert, ilcrcn
	        
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