Volltext: Börner - Cleoetas (Bd. 2)

Die Verfasser der neuesten Beschreibung Roms treten der Mei- 
 nung derjenigen bei, die den Michel-Angelo nicht in diesem 
VVerke, sondern in den Deckenbildern dieser Iiapelle auf seiner 
höchsten Stufe in der Malerkunst betrachten. Das jüngste Gericht 
übertrifft allerdings jene Bilder noch in der Meisterschaft der Zeich- 
nung, wenn darunter die Kunst verstanden wird, die menschlichen 
Gestalten in den möglichst denkbaren Bewegungen und Ansichten 
darzustellen. Aber es kann nicht geläugnct werden, dass der Künst- 
ler dem Bestreben, dieselbe zu zeigen, nicht selten das Schickliehe 
und Angemessene im Charakter und Ausdruck der Handlung opferte. 
Dabei ist der Styl der Zeichnung einförmiger, und minder edel 
und schön, als in den früheren Werken des Michel-Angelo in 
dieser Kapelle. Der grossartige Charakter der männlichen Figuren 
griinzt oft ziemlich an das Plumpe, vornehmlich aber sind die der 
Anmuth durchaus entbehrenden Frauen des jüngsten Gerichtes weit 
entfernt von der Schönheit der Figuren der Eva, der clclphischen 
Sihylle und so vieler anderer weiblichen Gestalten der Deckenge- 
mälde. Auch die jugendlichen männlichen Figuren entbehren die 
ihrem Alter angemessene Zartheit, und daher sind die in Jüng- 
lingsgestalt gebildet seyn sullenden Engel nicht durch den ihnen 
entsprechenden Charakter, sondern nur durch ihre Handlung, und 
zuweilen nicht mit völliger Sicherheit zu erkennen. Ihre Undeut- 
lichkeit wird noch bedeutend vermehrt, weil sie lVlichel-Angelo, 
wie in den Deckenbildern, ohne das gewöhnliche Kennzeichen der 
Flügel vorstellte, wodurch er sich auf eine nicht zu billigende 
VVeise von dem Typus der christlichen Kunst entfernte, da Flügel 
eine sehr treffende symbolische Bezeichnung eistiger Wesen sind. 
Eine ausführliche Beschreibung dieses weiääufigen Werkes, in 
welchem lVIichel-Angclds titanischer und dämonischer Geist er- 
scheint, ist in der neuesten Beschreibung Roms II. 1. Abth. S. 279 ff. 
zu lesen. Posaunenschall erweckt die Todten zum ewigen Rich- 
terspruch, zu dem sich der Sohn Gottes in der Glorie des Himmels 
von seinem Sitze erhebt. Engel, als Vollstrecker seines Urtheils, 
leisten den Guten, die sich ihm zur Rechten zum ewigen Heile er- 
heben, Beistand gegen die widerstrebende Macht der Teufel, und 
verwehren hingegen den Eingang zum Reiche der Seeligen den zur 
Linken frech emporstrebenden Siindern, die von da zurückgestos- 
5611, von bösen Geistern hinab zur Hölle gezogen werden, wo, 
nach -der Idee des Dante, die Ueberfahrt der Verdammten über den 
Acheron erscheint. Im Himmel sind die bereits zur Seeligkeit ge- 
langten zu beiden Seiten des l-Ieilandes versammelt. Die Heiligen, 
die mit ihrem Blute die Wahrheit des Glaubens bezeugten, tragen 
als Siegeszeichen die Werkzeuge ihrer Marter, während Engel 
den Triumph der Passion und der vollbrachten Erlösung feiern. 
Die Ausführung ist in diesem Gemälde in Hinsicht des demsel- 
ben entsprechenden Ausdruckes sehr ungleich ausgefallen, und 
wenn das auf die Hölle Bezügliche einzig und unübertrefflich 
scheint, so muss man bei der tiefsten Verehrung für Michelagnolo 
die Darstellung des Himmels der Seeligen für misslungen erklären. 
Dabei ist jedoch gegen den herabwiirdigendexi Ton zu bemerken, 
dessen sich manche Iiunstrichter beim Tadel der hier nicht zu 
läugnenden Mängel bedienten, dass selbst in den im Charakter 
und Ausdruck verfehlten Figuren sich ein mächtiges uncl gewalti- 
ges Leben Qßißnbafßt, und daher auch hier der ausserordentliche 
Geist des Iiunstlers nicht verkannt werden darf. 
ln den Gruppen der Aufrichtung des Kreuzes und der Erhöhung 
der Säulen verleitete den Iiiinstler der Hang, kühne und unge- 
vfiilltllllClle Bewegungen zu zeigen, zur Vernachlässigung des Aus- 

	        
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