Buonarotti ,
Nlichel-
An gelo.
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minder vortrefflich ist die lebendige Begeisterung des Engels, der
zum Propheten ins Ohr spricht, ausgedrückt.
Nicht allein die schönste unter den hier vorgestellten Prophetin-
nen, sondern überhaupt eine der vollkommensten weiblichen Bil-
dungen der neueren Iiunst ist die delphische Sibyllc, die der
Künstler als eine Frau in der schönsten Blüthe des Lebens gebil-
det hat. Der Iiopf derselben, der ideale Schönheit mit dem lebendig-
sten Ausdruck der Seele vereiniget, ist vorzüglich bewunderungs-
würdig. Auch ihre Bekleidung ist sowohl durch geschmackvolle
Anordnung, als durch harmonische Zusammenstellung lebhafter
Farben ausgezeichnet.
Auch unter den übrigen Gemälden sind ausgezeichnete Meister-
werke der Kunst. Der ewige Vater, in der Schöpfung der Sonne
und des Mondes, schwebend in Begleitung von Engeln dargestellt,
ist eine majestätische Figur, so wie nicht minder diejenige dessel-
ben Bildes, welche die kräuterhervorbringende Erde se net. Vor-
ziigliche Aufmerksamkeit verdienen die schönen fliegenden Gewvän-
der beider Figuren und ihre meisterhaften Verkürzungen, insbe-
sondere der ganz aus dem Bilde hervortretende rechte Arm des
Schöpfers der Sonne und des Mondes.
Tredlicher konnte vohl der Moment der geisti en Belebung des
Menschen nicht vorgestellt werden, als MicheF- Angelo in der
Schöpfung Adam's gethan hat. Gott belebt den Menschen durch
Berührung der Fingerspitzen, gleichsam durch die elektrischen
Funken der von ihm ausgehenden Iiraft. Vasari und Condivi, ph-
gleich Zeitgenossen des Künstlers, haben seine Gedanken hier
nicht begriffen. Auch die Ausführung dieses Gemäldes ist nicht
minder bewunderungswürdig, als die Erfindung. Die schwebende
Figur des ewigen Vaters bildet mit den sie umgebenden Engeln
eine vortreffliche und majestätische Gruppe. Die Zeichnung des
Nackten ist durchaus von grosser Vollkommenheit, und mit
Recht ist insbesondere die Figur Adam's als eine der vollkommen-
sten nackten Bildungen der neueren liunst betrachtet worden.
Die Darstellung der Schöpfung des YVeibes zeigt nicht mindere
Tiefe des Geistes; Adam ist vortrefflich gezeichnet, und die beiden
Figuren der Eva im Bilde des Sündenfalles und der Vertreibung
aus dem Paradiese gehören unter die vollkommensten nackten
weiblichen Bildungen des Michel-Angela, und der neueren Kunst
überhaupt. Die auf dem Sündenfalle, unter dem verbotenen Baume,
ist im eigentlichen Sinne reizend zu nennen, was sonst selten von
den Figuren dieses Künstlers gesagt werden kann.
Es ist daher die unbedingt ausges rochene Behauptung, dass
Michel Angela's weibliche und jugenddiiche Figuren dem Charakter
ihres Geschlechtes und Alters nicht entsprechen, durchaus falsch.
Im jüngsten Gerichte entbehren die Frauen allerdings der ihnen
angemessenen Grazie, und die jugendlich sein sollenden Engel
sind zu männlich. Die Deckenbilder zeigen dagegen die schön-
sten weiblichen und jugendlichen Bildungen. Freilich müssen auch
Seine menschlichen Gestalten hinsichtlich der durch Geschlecht und
Alter nothwendigen Verschiedenheit mit Rücksicht auf das Eigen-
thllmllßhe der idealen VVelt des Künstlers betrachtet werden. Die
Kinder auf diesen Deckengemälden sind von der grössten Schönheit,
vollkommen dem Charakter ihres Alters entsprechend; das letztere
aber vornehmlich in Bezug auf die Bieseuwelt, in der wir sie er-
blicken.
Die Sündfluth ist vielleicht die gelungenste der Compositionen
des Michel-Angele im Ausdruck der dramatischen Handlung, Worin
er sonst sich minder glücklich zeigt, als in mehr symbolischen Ge-
Naglefs Künstler-Lax. II. Bd. 14