Kultus,
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wurde. Mit einer weniger ausdrucksvollen Haltung der
Arme als bei dem Gebete, Welches unmittelbar und in
feierlicher Weise an die Gottheit gerichtet ist, bezeigte
man seine Andacht einem Götterbilde oder einem Altare.
In diesem Falle galt als leichteste Form der Verehrung
die Bewegung der rechten Hand mit geschlossenen
Fingern nach dem Munde zu, also das Zuwerfen einer
Kufshand. Der Fromme ging nicht leichtan dem Stand-
bilde einer Gottheit, an einem heiligen Baume oder sonst
einem geweihten Gegenstande vorüber, ohne Wenig-
stens durch einen solchen Grufs seiner Verehrung Aus-
druck zu geben (14, 3; vgl. 96, z). Eine feierlichere Form
der Andacht gegenüber einem Götterbilde bestand darin,
dafs man den einen Oberarm erhob, wobei man die
Hand mehr oder weniger nach aufsen kehrte und wohl
auch den Körper ein wenig nach vorn beugte. (Vign. I;
Taf. 15,6; vgl. 15, 1; 16, 7.) Auch diese Haltung war
offenbar dem Leben entlehnt, denn wir sehen auf bild-
lichen Darstellungen dieselbe Gebärde bei Hilfsbedürf-
tigen, die rnit ehrerbietiger Bitte vor einen weltlichen
Machthaber hintreten (36, I).
Das Gebet trägt seiner Natur nach den Charakter
der Bitte an sich, denn das Gefühl der Hilfsbedürftigkeit
ist es, welches am häufigsten den Frommen in dieser
Verehrungsform der Gottheit sich nahen läfst, mag es
aus der Bedrängnis durch augenblickliche Not oder aus
dem allgemeinen Bewufstsein der menschlichen Schwäche
entspringen. Als ein echtes Bittgebet erscheint denn
auch jenes Mustergebet, welches ein alter Philosoph
mit folgendem Wortlaute zu halten empfahl: „Zeus unser
Herr! gieb uns das Gute, ob wir dich darum bitten oder
nicht; was aber übel ist, das halte von uns fern, auch
wenn wir dich darum bitten." Dem Gefühle dankbarer
Verpflichtung für erwiesene Wohlthaten pflegt dagegen