Volltext: Handbuch der Kunstgeschichte (Bd. 2)

Zweite Periode. 
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der stützenden Theile in gar keine oder 1111? in eine llßfhdürftig ange- 
deutete Verbindung; auch das Strebesystem des Aeusseren beschränkte 
man auf das unbedingt Nothwendige und vermied alle Selbständige Aus- 
bildung desselben. Die Oeffnungen, namentlich die Fenster, behielten auf 
geraume Zeit die romanische Reminiscenz; sie wurden insgemein, ohne 
Maasswerk, schlank spitzbogig gebildet (sogenannte „Lanzetfenster") und 
je nach dem räumlichen Erforderniss zumeist in Gruppen zusammenge- 
Ordnet. Ein Thurm über der Durchschneidung des Hauptquerschilfes mit 
dem Langschiff ward aus der romanischen Tradition durchgängig beibe- 
halten; dagegen bildete sich für die Gestaltung des Fagadenbaues ein 
feststehendes Gesetz nicht aus.  Um so reicher, wie bemerkt, gliederten 
sich die Einzeltheile, in einer leichtflüssigen, w'ielve1'tl1eilten Bewegung, 
in dem Ausdruck einer kecken Laune, eines übermüthigen Behagens. 
Die Pfeiler der Schiffarkaden, verschiedenartigen Kernes, lösen sich in 
eine Fülle schlanker Säulenschafte auf oder werden von solchen spielend 
umstellt. Ebenso lebhaftes Formenspiel, zum Theil mit neuer Bethätigung 
alter Schnitzmanieren, erfüllte die Bögen, welche die Pfeiler verbanden. 
Zierliche Lanzetarkaden deckten innen und aussen die Wände. In der- 
selben Weise gliederten sich die Fenster- und Thüröffnungen. Dabei ist 
aber zu bemerken, dass, wie überhaupt auf einen regelmäissigen Facaden- 
bau wenig gerücksichtigt ward, auch die Portale an sich nicht zu einer 
selbständig wirkenden baulichen Entfaltung gelangten; sodann, dass das 
ganze architektonisch dekorative System auf bildnerischen Schmuck keinen 
sonderlichen Bezug hatte, und wo es zur Anwendung eines solchen kam, 
dieser sich in zumeist willkürlicher, systemloser Weise einfügte. Ueber- 
haupt ist dies dekorative System, durch einen tieferen architektonischen 
Organismus nicht gebunden, von mannigfach eigenwilliger Fassung nicht 
frei. Die Bögen erscheinen häufig, unrhythmischer Weise, in verschieden- 
artigen Spannweiten. Wo sie sich ineinandergruppiren und dann, mehr 
oder weniger, zu einer Maasswerkgliederung Veranlassung geben, werden 
sie in concentrisch parallelen Linien geführt, ebenfalls in verschiedener 
Spannweite der engeren und der weiteren Bögen, bei scheinbarer, äusser- 
lich schematischer Uebereinstimmung nicht minder den Mangel an Gefühl 
für einen lebendigen Rhythmus bekundend. Denselben schematischen 
Charakter hat endlich auch das vegetative Ornament der englischen Früh- 
gothik, in seltsam conventionellen, volutenartig gerollten Blattformen. 
Es sind in alledem verwandtschaftliche Elemente mit den frühgothi- 
sehen Systemen der Normandie, durch die nahen politischen "und volks- 
thümlichen Wechselbezüge zwischen beiden Ländern begründet. Doch 
erscheinen die Denkmale der Normandie, unter dem nachbarlichen ElIIflIISSG 
jener grossen Bauschulen der französischen Nordostlande, fester in sich 
gebunden, in kräftigerer Totalität. Auch die englische Gothik, so rüsti- 
gen Sinnes sie ihre besondere Richtung verfolgte, konnte sich diesem 
ElIIllIISSG nicht ganz verschliessen. Häufig kreuzt derselbe die nationell 
besondere Behandlungsweise, so dass sich die specifisch englischen Formen 
mit speciiisch französischen mischen oder in grösserem oder geringerem 
Grade nach dem Gesetze der letzteren umbilden. Im sehr seltnen Aus- 
nahmefalle wird das ausgebildet französische System auch in seiner ganzen
	        
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