Volltext: Handbuch der Kunstgeschichte (Bd. 2)

Zweite 
Periode. 
Mit dem 13. Jahrhundert beginnt die selbständige Entfaltung des 
gothischen Styles; er gewinnt im Laufe desselben seine volle, starke, in- 
nerlich gebundene Durchbildung. Zunächst, und zwar bereits in der 
ersten Hälfte des Jahrhunderts, in den Gegenden des französischen Nord- 
ostens und in denjenigen Orten, welche sichihrer künstlerischen Richtung 
unmittelbar anschliessen. Dann, in früherer oder späterer Aufnahme, in 
den übrigen Landen des europäischen Occidents. Es ist die Epoche seiner 
ersten machtvollen Blüthe, welche dein Ausdrucke grossartigster Erhaben- 
heit mit stets gesteigerter Entwickelung der Kräfte nachstrebt, welche 
schon bis zur grössten Kühnheit technischer Combinationen vorschreitet 
und gleichzeitig auf die reichlichste, auch ein gewaltsames Uebcrmaass 
nicht scheuende bildnerische Ausstattung Bedacht nimmt, welche dabei 
aber, in ihren Combinationen wie in der Behandlung des Einzelnen, noch 
ein Gesetz herber Strenge bewahrt, das eine geschmeidigere Ausprägung 
der Formen noch nicht zulässt, das ebenso aber auch der Verflüchtigung' 
des Systems in die Bildungen einer künstlichen Speculation noch ent- 
ggegensteht. 
Architektur. 
Die Elemente des architektonischen Systems, welche in der Eingangs- 
epoche gewonnen waren, treten in einen festern,_ sich gegenseitig bestimm- 
ter bedingenden Zusammenhang und gestalten sich anschaulicher und 
ausdrucksvoller nach den Verhältnissen des letzteren. Auch die übrigen 
baulichen Theile fügen sich in entscliiedenerer Weise diesem Zusammen- 
hange ein und nehmen ein dem Gesetze des Ganzen mehr und mehr ent- 
sprechendes organisches Gepräge an, das Fremdartige, aus dem Roma- 
nismus Beibehaltene von sich ausstossend. Die unbedingte Consequcnz, 
welche das Wesen des gothischen Baustyles ausmacht, fängt an sich gel- 
tend zu machen und lässt die Wunder seiner Wirkungen sich entfalten. 
Für die Gestaltung des Innenhaues ist zunächst jene Aufnahme der 
Säulenform in den Schifarkaden von wesentlichster Bedeutung. Sie giebt 
den Stützen, den architektonischen Organen, mit denen die Bewegung des 
Inneren anhebt, eine in sich beschlossene, gewissermaassen individuell 
charakterisirte Form. Von der massigen Schwere ihres ersten Erschei- 
nens wird bald abgesehen; sie steigt gern, je nach den Verhältnissen der 
übrigen baulichen Masse, leicht und schlank empor; sie wird in dieser 
Weise an zahlreichen Monumenten angewandt, an solchen von geringerer 
Dimension, wo die zu tragenden Lasten minder gewichtig sind, an ande- 
ren, wo sich, als anderweitige Bestimmung, ein absichtliches Verharren 
bei einfacheren Entwickelungsgesetzen ankündigt. (Gewisse Lokalschulen 
bleiben bis auf die Spätzeit des Styles hiebei stehen.) Aber freilich ist 
die Säule an sich ein zu isolirtes bauliches Glied, um der Fülle der Oom- 
binationen, welche das Gesetz der Gothik verlangt, gerecht werden zu 
können. Sie verbindet sich daher, in weiter schreitender Entwickelung,
	        
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