VI ERTES
KAPYFIEL.
DIE NORDISCHEHBILDENDE KUNST DES MODERNEN STYLES VOM
ANFANGE DES FUNFZEHNTEN BIS ZUR MITTE DES SECHSZEHNTEN
JAHRHUNDERTS.
Allgemeine Bemerkungen.
Um den Beginn des 15. Jahrhunderts treten auch im Norden (zu-
nächst in den Niederlanden), künstlerische Bestrebungen hervor, die ebenso
rüstig und entschieden, wie die der italienischen Kunst, die lebendig er-
wachte moderne Sinnesweise ankündigen; es ist dasselbe Verlangen, das
Einzelne in seiner abgeschlossenen Selbständigkeit geltend zu machen,
dasselbe sorgliche Eingehen auf die Vorbilder der Natur, in dem ganzen
Reichthum und Wechsel ihrer Erscheinungen. Die nordische Kunst bringt
es hierin zunächst, in mehrfacher Beziehung, sogar zu glücklieheren Er-
folgen als die italienische. Dennoch steht sie der letzteren von vorn-
herein in der Grösse des Sinnes nach; dies Verhältniss gestaltet sich
immer deutlicher, je weiter die Entwickelung der Zeit vorschreitet, am
Deutlichsten im Anfange des 16. Jahrhunderts, indem die nordische Kunst,
so achtbar und eigenthümlich ihre Leistungen auch bleiben, doch an dem
grossartigen Aufschwunge, der zu dieser Zeit in Italien statt fand, keinen
Antheil nimmt. Als ein wichtiger Grund für diese Erscheinung ist vor-
erst der Umstand hervorzuheben," dass der nordischen Kunst das Verhält-
niss zur Antike fehlt, welches in Italien schon im Verlauf des romantischen
Zeitalters (obschon hier nicht immer günstig) (lurchgeklungen hatte und
welches für die in Rede stehende Periode als ein höchst bedeutsames
Förderungsmittel betrachtet werden musste. Der nordischen Kunst man-
gelt in dieser Periode jene Grösse und Würde der Formen, welche die
italieniSChe Sieh, unter dem Einfluss der Antike, in immer steigendem
Grade anzueignen wusste. Dennoch ist diese Unbekanntschaft mit den
Werken der Antikenicht das einzige, auch nicht das wesentlichste unter
den Verhältnissen, durch welche die Entwickelung der nordischen Kunst
zurückgehalten wurde. Sahen wir hier doch bereits ungleich früher, um
den Schluss des 12. Jahrhunderts, in den Sculpturen von Wechselburg
und Freiberg Werke entstehen, die in dem Adel ihrer Erscheinung der
durch die Antike bezeichneten Richtung entschieden gleichzustellen sind;