Rafael Santi und seine Nachfolger.
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Rafael Santi und seine
Nachfolger. 1
Rafael Santi von Urbinoz (geb. am Charfreitag 28. März 1483,
gest. am Charfreitag 6. April 1520), der Sohn des Giovanni Santi, empfing
seine erste Bildung in der umbrischen Schule, in welcher eine tief ge-
müthliche Auffassung, eine zarte Gestaltung der Formen, eine liebevoll
durchgeführte Behandlung als dasjenige galten, was der Künstlervor-
zugsweise zu erstreben habe. Er hatte sich dieser Richtung mit aller In-
nigkeit eines jugendlichen Gemüthes hingegeben; als aber der Geist, der
in ihm wohnte, seine Schwingen mächtiger zu regen begann, trat ihm
auch das äussere Leben der Welt in seiner Frische und heitern Kraft
entgegen, und rüstigen Sinnes wandte er sich nunmehr dem zu, was in
andern Richtungen (namentlich in der schule von Florenz) die grossen
Meister der Kunst vorgearbeitet hatten, was an künstlerischer Vollendung
die Denkmäler des klassischen Alterthums darboten. Doch auch in sol-
chem Streben blieb er nicht mit Einseitigkeit befangen; zu noch höherer
Kraft entwickelt, von den glücklichsten Verhältnissen emporgetragen,
gelangte er dahin, die beiden Richtungen seiner früheren und seiner spä-
teren Jugend zu einer in sich einigen zu verschmelzen und die göttliche
Schönheit, die seiner inneren Anschauung vorgeschwebt hatte, dem Auge
der Menschen zu offenbaren. Die Schönheit der Form als Ausdruck eines
lauteren Zustandes der Seele, das harmonische Gleichmaass der inneren
und äusseren Existenz, die hohe und ungetrübte Ruhe des Gemüthes,
die aus solchem Verhältniss hervorgeht, bildet den eigentlichen Grund-
zug in Rafaels Kunst; seine Werke tragen das Gepräge der gediegensten
Vollendung des Styles; sie stehen in ihrer Form der Antike zur Seite,
aber sie sind zugleich von _dem milden Geist des Ohristenthums beseelt,
und umgekehrt zeigen sie", das tiefsinnige Streben des letzteren zur
klarsten, klassischen Ruhe umgestaltet. -S0lch ein Ziel zu erreichen war
aber nur der höchsten moralischen Kraft möglich; und diese Kraft brachte
es zugleich mit sich, dass wir bei Rafael nur im seltensten Falle eine
Neigung zu manieristischer, (auf die äussere Schau berechneter) Behand-
lungsweise finden, während dergleichen bei den übrigen Meistern, und
gerade bei denen, die auf der Höhe der, Meisterschaft stehen, nicht so
gänzlich selten eintritt. Auch ist sie der Grund,__dass seine Werke nim-
mer ein Verweilen auf der einmal gewonnenen-Stufe der Kunst, sondern
einen steten Fortschritt erkennen lassen. Die neuere Forschung hat
demnach die Zeit, in der die einzelnen seiner Arbeiten gefertigt sind,
mit zuverslchtlicher Genauigkeit, zum Theil bis auf Monate, bestimmen
können; wir sind dadurch in den Stand gesetzt, den Gang seiner Ent-
wickelung in allen, auch den feinsten Abstufungen zu verfügen) und es
dürften hiebei wenigstens nur sehr vereinzelte Streitfragen noch zur
Sprache kommen. Bei diesen Umständen wird es nicht überflüssig
1 Denkm. der Kunst,
V09 Urbino, etc. Sehr
Pelntres les plus cäläbres.
T. 78._ 79. Hauptwerk: J. D. Passavant, Rafael
Zühlfelßhe Umnsse bei Landon, Vies et oeuvres des
Vgl. F. Kugler, kleine Schriften, II, S. 513. 523.