Volltext: Handbuch der Kunstgeschichte (Bd. 2)

Allgemeiner 
Charakter. 
cyklischcr Bilderfolgen. Das gedanklich dogmatische Element, zum 
Theil in symbolischer Fassung, ist auch hier, wie schon in der Kunst des 
romanischen Styles, die "Hauptsache. Aber der unmittelbare Bezug zu 
der baulichen Gliederung, die stets enge Unigränzung der einzelnen bild- 
nerischen Darstellung durch die baulichen Formen nimmt dieser gleich- 
zeitig die Gelegenheit zur breiteren, selbständig freieren Entfaltung. 
Ueberall bleiben die Gestalten einzeln für sich, ob zum Theil auch in 
unermesslicher Fülle, in Nischen, Tabernakeln, Fenstergittern, nebenein- 
andcr geordnet, bleiben die Gruppen in enge Füllungen (z. B. die Lünet- 
tßll der Portale) zusammengepresst und hiemit auf das Nothwendigste 
beschränkt. Der gedankliche Gehalt, schon an sich mit Formen von ty- 
pischem Gepräge leicht befriedigt, findet somit im Wesentlichen nur in der 
Darstellungsweise, welche das architektonisch formale Gesetz vorgezeichnet 
hatte, seinen Ausdruck. Was sich hievon als Ausnahme geltend macht, 
beruht auf Verhältnissen, denen im Einzelnen Rechnung zu tragen ist. 
Die Oomposition des bildnerischeil und des dekorativen Einzelwer- 
kes gothischer Kunst steht nicht minder unter dem gebieterischen Ein- 
flusse des Gesammtsystems. Ueberall zeigt sich der Reflex jener Totalität 
und gegenseitigen Bedingtheit der wirkenden Kräfte; überall, ungleich 
entscheidender als bei den Stylformen andrer Epochen, findet sich die 
Hindeutung auf das architektonische Bedingniss, die zum Theil sehr weit 
getriebene Nachahmung der baulichen Formen, die ursprünglich einem 
besonderen structiven Systeme zum besonderen ästhetischen Ausdrucke 
dlellßnsüllten. Die bildnerische Gestalt wagt es nicht, frei zu erschei- 
nenä S19 bedarf des _Ba1dachins, des Tabernakeleinschlusses zur Sicherung 
und Rechtfertigung ihrer Existenz; zusammengesetzte Werkäveranlassen 
eine überaus reiche Durehbildung, eine bunt dekorative Aufgipfelung die- 
ser architektonischen Umgebung. Ebenso schmückt sich das Prachtgeräth 
mit Formen, welche das System des architektonischen Aufbaues nachbilden, 
zumeist sehr weit über seinen eigentlichen formalen Zweck hinaus, oft in 
zierlichstem Spiele, oft freilich auch, ein natürliches Ergebniss handwerks- 
mässigexl Betriebes, in sehr gedankenloser Verwendung dieser Formen.  
Die Kunst des gothischen Styles gedeiht, nach ihren ersten, zögern- 
den Anfängen, in rascher Folge zu jener Entwickelung, welche ihre in- 
nßrlicho Consequenz, das durchgehend Charakteristische und Beziehungs- 
weise ihrerErscheinungen feststellt, welche sie zum bewältigenden Ausdrucke 
der Zeitstimmung macht und die Ausbreitung ihrer Herrschaft sichert. 
Die romanische Form, wie hartnäckig diese in einzelnen Distrikten auch 
ihr Dasein zu behaupten sucht, zu wie hoher Vollendung sie sich in ein- 
zelnen Fällen ausgebildet, welche Zugeständnisse sie in einzelnen Werken 
schon dem gothischen System gemacht hatte, muss im Laufe der Zeit 
überall den Ansprüchen des letzteren weichen. In stets gesteigertem 
Maasise vermehren sich die Kräfte zur stets kunstreicheren Durchbildung 
dieses Systems. Aber das System hatte von vornherein den Keim der 
Auflösung in sich. Schon in jener Verbindung des widersprechenden, 
worauf seine Existenz beruhte, in der Verbindung der höchsten spiritua- 
listischen Tendenz mit der Kälte des Handwerkes, lag dieser Keim; küljSt- 
liche Speculation und Schematismus waren die Folge davon. Weltör
	        
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