Volltext: Handbuch der Kunstgeschichte (Bd. 2)

Allgemeiner Charakter. 
unbegeistigtes Wesen. Ueberall wird die an Zirkel und Lineal gebundene 
Hand des Meisters ersichtlich. 1  
So ist auch das Phantastische, das in der romanischen Kunst oft 
freilich barock ungeheuerliche, nicht ganz selten aber auch Bildungen 
eines hohen und edlen Reizes hervorgebracht hatte, von dem gothi- 
sehen Style zumeist ausgeschlossen. Es steht eben der Ehrbarkeit und 
Beschränktheit des bürgerlichen Handwerkes zu fern. Das Ornament, 
welches Natur-formen nachbildet und welches früher zur Entwickelung des 
phantastischen Sinnes besonders häufige Gelegenheit gegeben hatte, ist 
im Ganzen von wenig vorwiegender Bedeutung. Die Pfeiler des bauli- 
chen Innern haben als Kapitälschmuck einen schlichten Laubkranz, die 
Giebel, Fialen und Thurmspitzen des Aeussern eine Besetzung mit Blatt- 
Werk, gewissermaassen ein letztes Ausbliihen jener imablässigen architek- 
tonischen Bewegung andeutend, zu dessen Form die heimische Vegetation 
das Vorbild giebt. liligürlich dekoratives Element erscheint besonders an 
den Wasserausgüssen, welche die Sorge für eine regelrechte Ableitung 
des Wassers bei so sehr complicirten baulichen Anlagen nöthig machte; 
ihre Function giebt zu naiv humoristischer, oft sehr derber (und selbst 
brutaler) Darstellung Anlass. Zuweilen äussert sich in der figürlichen 
Darstellung der alte phantastische Zug (z. B. in der Gestaltung unge- 
heuerlicher, aus Mensch und Thier zusammengesetzter Wesen); doch ist 
eine einfach realistische Auffassung überwiegend. Nicht selten steigert 
sich der in den dekorativen Theilen beliebte Humor zur Ironie und selbst 
Vzur saure; (11686 Wendet sich gern, oft mit Bitterkeit, gegen die Vertre- 
ter der färossen geistigen Macht, gegen Priester- und Mönchsthum. Es 
macht sich in alledem, von der naiven Nachbildung heimischer Naturform 
bis zu dieser Satire, ein neues Einsetzen volksthiimlichen Dranges be- 
merklich, auch ein Zeugniss jenes geheim fortgährenden Widerspruches 
gegen die herrschende Macht, das nicht wohl ausbleiben konnte. Aber 
das Princ-il) der letzteren behält vorerst das entschiedene Uebergewicht. 
Der viorziiglichsten baulichen Stellen für plastisches und gemal- 
tes Bildwerk ist schon gedacht. Dasselbe ist für die Totalität des bau- 
lichen Werkes von wesentlicher Bedeutung. Es ordnet sich denjenigen 
Stellen ein, die nicht als Organe der architektonischen Bewegung oder 
des Gerüstes der architektonischen Oomposition erscheinen, und füllt sie 
mit Gebilden des individuellen Lebens; es tritt hinzu, wo jene Bewegung 
ihre reichste Entfaltung gewinnt, und giebt dieser den vollendeten Aus- 
druck. Die Glasmalerei, in der Epoche des romanischen Styles ein Kunst- 
fach von geringem Belang, trägt zu der eigenthümlichen Innenwirkung 
des gothischen Gebäudes in entschiedenem Maasse bei; das Aeussere em- 
pfängt durch die Sculpturausstattung, zumal in seinen lebhafter geglieder- 
ten Theilen, den charakteristisch bezeichnenden Abschluss. Ueberall losen 
 
' Hierin ist einer der grössten Gegensätze der Gothik gegen die griechische 
Architektur, in welcher letzteren alle bewegte Form den Ausdruck schwellender 
Elasticität hat und das feinste individuelle Geiiihl athmet. Für die elastischem 
Ilien der Volute des griechisch-ionischeu Kapitäls sind zahlreiche mathepatlsclläe 
Uonstruetionen vorgeschlagen; aber keine von ihnen bringt es zu dem Elndruß 6.. 
belebter Kraft, den jene frei nachdem Gefühl gebildete Form hat.
	        
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