Volltext: Handbuch der Kunstgeschichte (Bd. 2)

gothischen Styles. 
des 
Die Kunst 
vollen Strömung des Gefühles hervor, aber sie nehmen gleichzeitig alle 
Kräfte des Verstandes in Anspruch. Nur die besonnenste und umfassendste 
Berechnung bewältigt dies vielgegliederte Ganze. Und wie die Kühnheit 
der Oonception sich steigert, wie sie von Wundern zu Wundern der for- 
malen Wirkung fortschreitet, so folgt ihr auch der Scharfsinn der Berech- 
nung, oder vielmehr er ist es, auf demdiese Wunder sich aufbauen und 
unablässig erhöhen. Stets flüssiger wird die Bewegung, stets luftiger, 
der Masse spottend, werden die Höhentheile, die Wölbungen, die Bögen, 
die Wimberge, die Tabernakel, die Fialen, bis zuletzt der Bau des Thur- 
mes sich dekorativ auflöst und statt seiner ein ätherisch durchbrochenes 
Werk in die Lüfte emporragt. Es ist die grosse handwerkliche Schule, 
der städtisch zünftige, von Meister zu Meister fortgepflanzte Betrieb und 
sein zu stets festeren Regeln ausgebildetes Gesetz, was diese Wunder des 
Calcüls möglich und wirklich macht. Es ist die unmittelbare Verbindung 
der grossartigsten geistigen Tendenzen der Zeit mit dem schlichten bür- 
gerlichen Handwerk, die hier zu Tage tritt. Aber das letztere war kein 
todtes, kein nur stoifliches Element; es musste zugleich auf die geistige 
Conception eine seiner eigenthümlichen Natur entsprechende Rückwirkung 
ausüben. 
Schon die allgemeinen Grundzüge des Systems bedingten ein nüch- 
gtern verständiges Verhalten, wie solches dem handwerklichen Geiste eig- 
Q, und liessen dasselbe mit in die Erscheinung treten, Jene Wunder 
{des Calcüls waren der Art, dass zu ihrer Würdigung der nachrechnende 
S-Verstand wesentlich mit in Anspruch genommen, die Naivetät des künst- 
lerischen Eindruckes beeinträchtigt ward. Die Folgerichtigkeit der Con- 
ceptiöh laän den mathematischen Aufrissen des Werkes auf dem Perga- 
ment unzweifelhaft vor; aber ihre Klarheit, und somit die Reinheit ihrer 
Wirkung, trübte sich bei der Fülle der Gegenwirkungen, welche in dem 
ausgeführten Bau (in dessen perspectivischer Erscheinung) nothwendig 
hervortreten mussten. Die Bildung der Detailformen entwickelte sich 
überall aus den Gesetzen der Bewegung, welche die gesarnmte architek- 
tonische Composition durchdrangen; wie diese, so sind auch sie neu und 
eigenthümlich und in den Anfangen des gothischen Styles, wo er der 
quellenden Kraft des RomanismuS noch nahe stand, in den ersten Stadien 
seiner Entwickelung häufig in der That von überraschender Schönheit und 
Frische. Aber die Protilirung der Glieder wird nur zu bald (in den spä- 
teren Epochen durchaus) auf einen nüchternen Schematismus zurückge- 
führt, der sich als das Ergebniss einer entschieden handwerksmässigen 
Schulregel bekundet. Massen und Füllungen, oifne und geschlossene Flä- 
chen nehmen gern ein Stab- und Leistenwerk auf, welches dazu bestimmt 
erscheint, die in der Gesammt-Organisation des Baues ausgesprochene 
Belebung in unablässig wiederholtem Formenspiele nachklingen zu lassen; 
dasselbe verschlingt sich in den mannigfaltigen Figurationen eines bun- 
ten, aus Zrrkelschlägen construirten "Maasswerkes"; aber es ist eben 
völlig die Gebundenheit des Zirkels,  wiederum die des mathematischen 
Calcüls, -welche dieses Formenspiel auch bei seinen glänzendsten Effek- 
ten, auch bei dem regsten Wechsel seiner Oombinationen erfüllt, ein 
innerlich doch unbelebtes und somit im tiefer künstlerischen Sinne doch
	        
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